Die Leidensvernichtung

 

Alles ist anattā, nicht-selbst, gehört nicht zu meinem tiefsten Wesen, die ganze äußere Welt so wenig, wie mein körperlicher Organismus mitsamt dem Bewußtsein: Ich bin [in meinem tiefsten, todlosen Grund] jenseits von dem allen, jenseits der Welt.

Das war die eine Wahrheit, die uns der Buddho zu sagen hatte.

Die zweite war: All dieses Fremde, in das ich mich hineinverwoben sehe, ist für mich nichts als eine einzige, unabsehbare Kette von Leiden, weshalb es für mich das beste ist, mich, wenn irgend möglich, wieder von ihm loszumachen.

Damit ergab sich aber die Notwendigkeit, uns über das Verhältnis, in welchem wir zu diesem Fremden stehen, klar zu werden, vor allem darüber, wie wir zu ihm gekommen sind und wie wir immer wieder zu ihm kommen. Auch das wissen wir nunmehr. Es stellt sich dem zusammenfassenden Blick, wie folgt, dar:

Wir hängen an der Welt, haben Durst, Verlangen, mit ihr in steter Berührung zu bleiben. Lediglich diesem Zweck dient unser „mit den sechs Sinnen behafteter Körper“, indem er den Berührungsapparat bildet gegenüber der Welt der Gestalten, der Töne, Düfte, Säfte, des Tastbaren und der Vorstellungen, eben weshalb wir ihn auch die Sechssinnenmaschine nennen konnten. Dabei arbeitet dieser Apparat derart, daß, wenn ein Sinnesorgan mit einem entsprechenden Objekt zusammentrifft, sofort Bewußtsein ausgelöst, beziehungsweise das bereits anderweit ausgelöste Bewußtsein davon affiziert wird, in welchem Bewußtsein wir dann zuallererst, und zwar in Form der Empfindung und Wahrnehmung, vom Objekt und damit von der Welt berührt werden.

Weil so unser körperlicher Organismus der Apparat zur Ermöglichung der Berührung mit der Welt ist, deshalb konzentriert sich auch all unser Durst auf die Erhaltung und den Gebrauch dieses Organismus, sowie darauf, ihn im Augenblicke des Zerfalls im Tode durch einen neuen zu ersetzen, was dadurch erreicht wird, daß infolge dieses dürstenden Willens ein Anhaften an einem neuen Keim herbeigeführt wird, der sich dann wiederum zu einem Organismus entwickelt.

Wir sind nichts von dem, was erscheint, sind also im vollkommensten Sinne qualitätslos und damit für das Erkennen, nachdem dieses ja nur Qualitäten zum Objekt haben kann, schlechterdings nichts. Aber wir sind nur für das Erkennen nichts; an sich sind wir das Realste von allem; denn wir sind eben der Gegensatz von dem, was wir seit ungezählten Jahrmilliarden, ja seit Ewigkeiten, entstehen und vergehen sehen.

In Wahrheit bin ich so wenig Wille als Bewußtsein. Was das letztere anlangt, so ist es, wie aus dem Bisherigen zur Genüge hervorgeht, nur die jeweilige Folge des ersteren und deshalb mit ihm untrennbar verknüpft: Es flammt auf, so oft ein Wollen in Form einer der sechs Sinnentätigkeiten sich in mir geltend macht, und nur dann. Was aber dieses Wollen betrifft, so ist es eine bloße Regung, ein bloßes Verlangen nach etwas Fremdem, das in meinem unergründlichen Wesen aufsteigt, aufsteigt nicht etwa, weil diesem meinem Wesen diese Art der Betätigung eigentümlich wäre, so zwar, daß es sich eben deshalb derart betätigen muß, sondern das überhaupt nur aufsteigen kann, weil das jeweils ausgelöste Element des Bewußtseins nicht klar leuchtet und demzufolge als eine trübe Wolke über mir liegt, so daß sich die Objekte nicht so darstellen, wie sie wirklich sind. Sobald dieser Zustand des Nichtwissens durch das Aufsteigen des Wissens im Bewußtsein beseitigt und damit die Wolke des Nichtwissens für immer aufgelöst wird, kann die Regung des Wollens gar nicht mehr aufsteigen …

Ist mir aber das Wollen nicht wesentlich, dann natürlich auch nicht mein Organismus, der ja erst infolge des durch dieses Wollen veranlaßten Haftens entsteht und im Grunde nur das solcherart gebildete Werkzeug zur Befriedigung meines Wollens ist, und ebensowenig mein Bewußtsein, das selbst wieder erst infolge der Tätigkeit des Organismus aufflammt, damit aber auch nicht Empfindung und Wahrnehmung und Gemütsregungen, die lediglich als Folgen der Sinnentätigkeiten und des von diesen ausgelösten Elements des Bewußtseins für mich möglich werden.

Der Untergang alles Wollens und alles Bewußtseins und aller Empfindung ist also nicht der Verlust eines Gutes, sondern das Freiwerden von einer Bürde, einer ungeheueren Bürde, wenigstens für den, der die ganze Wahrheit durchschaut hat.

Erst jetzt wissen wir auch im vollen Umfange, was Freiheit heißt. Freiheit ist ein negativer, kein positiver Begriff. Er sagt nur aus, daß man von etwas, und zwar näher von etwas Hinderndem, Beschränkendem frei wird, nicht aber, was man dann ist, wenn man in dieser Weise frei geworden ist. Die höchste, „die heilige Freiheit“ besteht nun eben darin, daß man von allen Beschränkungen frei wird …

„Dies, Mönche, ist die Hohe Wahrheit von der Aufhebung des Leidens: es ist eben dieses Durstes völliges Aufgeben, Vernichten, Verwerfen, Ablegen, Vertreiben.“ (Sam. 46, 11)

Wenn wir unseren Willen genau betrachten, so sehen wir ihn sich auf eine doppelte Weise betätigen, einmal als ein von Überlegung und Erwägung bestimmtes Wollen und dann als trotz Erwägung und Überlegung sich geltend machender Trieb. Fast unser gesamtes Wollen ist mehr oder minder der Ausfluß solcher Triebe in uns. Dadurch nimmt es eine ganz bestimmte Richtung an, es ist von vornherein mehr oder weniger determiniert, so sehr, daß der Wille eines jeden Menschen sich im großen und ganzen als eine Summe bestimmter Willensdispositionen darstellt, die man als seine Charaktereigenschaften oder in ihrer Gesamtheit als seinen Charakter bezeichnet.

Dieses triebmäßige Wollen ist es insbesondere weiterhin, das uns im Momente des Todes stets wieder zu einem neuen Anhaften an einem neuen Keim treibt, ein neues solches Anhaften herbeiführt und uns so immer wieder an einen neuen Organismus kettet. …

Im Durst muß unser Wille vernichtet werden, soweit er über uns Gewalt gewonnen hat. Mit dieser Vernichtung ist dann das Band, das uns an die Welt und damit ans Leiden fesselt, definitiv durchschnitten: Wir sind erlöst.

Übrigens ist die Erlösung nicht davon abhängig, daß man noch bei Lebzeiten nach Belieben die Aufhebung der Wahrnehmung und Empfindung herbeizuführen und damit völlig aus der Welt herauszutreten vermag – um das zu verwirklichen, muß noch eine ganz außerordentliche Fähigkeit der Konzentration gegeben sein, wie wir später sehen werden –, sondern die Erlösung ist ausschließlich dadurch bedingt, daß infolge des Aufgehens des vollen Wissens, daß alles leidvoll und durch den Durst bedingt ist, eben dieser Durst restlos vernichtet wird.

 

(G.Grimm, Die Lehre des Buddho, S. 231 ff.)