Allgemeines


Wie genugsam ausgeführt, fällt das Problem der Leidensvernichtung mit dem der Überwindung unserer Persönlichkeit zusammen, durch die allein wir mit der Welt und damit mit dem Leiden verbunden sind, ja, in der wir die Welt und damit das Leiden überhaupt bloß erleben. In dem Maße, als es mir gelingt, von meiner Persönlichkeit loszukommen, über sie hinauszuwachsen, wachse ich auch über die Welt und ihre Leiden hinaus, und wenn ich mich ganz von den Bestandteilen meiner Persönlichkeit abgelöst habe, schaue ich als ein völlig Fremder auf sie und damit auch auf die Welt und das Leiden herab.

Doch mit der Hinauswachsung über meine gegenwärtige Persönlichkeit ist das Problem von der Vernichtung des Leidens noch keineswegs erschöpft. Ja, handelte es sich bloß um die Überwindung dieser meiner gegenwärtigen Persönlichkeit, so ließe sich schließlich sogar mit Recht einwenden, daß ein wirklich ernsthaftes Problem gar nicht gegeben und es deshalb auch gar nicht der Mühe wert sei, deswegen einen großen Erlösungsapparat in Tätigkeit zu setzen, da diese Persönlichkeit im Tode ja ohnehin von selbst vollständig zerfalle. Der Schwerpunkt liegt vielmehr darin, auch jede künftige Neubildung einer solchen im Momente der Auflösung der gegenwärtigen zu verhindern, da wir ja bereits wissen, daß wir uns im Augenblicke des Todes jeweils immer sofort wieder neu in einem der fünf Reiche objektivieren. Eben hierin lag auch für den Buddho der Kern des Problems.

Hiernach übersah der Buddho also anschaulich die grenzenlose Kette seiner vorangegangenen, jedesmal durch eine neue Geburt bedingten Persönlichkeiten, wie auch, daß die anderen Wesen im unaufhörlichen Kreislauf immer wieder vom Tod zu erneuter Geburt geführt werden, und erfaßte eben diesen unabsehbaren Kreislauf innerhalb der fünf Reiche im aufgehenden dritten Wissen als das große Leiden des Menschen: „Dies ist das Leiden“ verstand ich da.

Vom Leiden kann ich mich als definitiv befreit nur dann erachten, wenn ich die unumstößliche anschauliche Gewißheit erreiche, nicht nur, daß ich etwas von den Bestandteilen meiner gegenwärtigen Persönlichkeit durchaus Verschiedenes und deshalb von deren Schicksal Unberührbares bin, sondern auch, daß diese meine gegenwärtige Persönlichkeit die letzte sein wird, an die ich gekettet bin, ich also mit meinem kommenden Tode als dem letzten, der mir noch bevorsteht, auf ewig aus dem Kreislauf der Wiedergeburten, dem Samsāro, heraustreten und durch keinerlei Elemente desselben werde mehr beunruhigt werden.

Die Vernichtung des Leidens kann ich bloß erreichen, wenn ich seine Entstehung kenne. So ist es denn vom Buddho auch nur folgerichtig, wenn er zunächst in der zweiten der vier Hohen Wahrheiten die Entstehung dieser unübersehbaren Leidenskette aufdeckt.

(G.Grimm, Die Lehre des Buddho, S.153 ff.)