Die Anattā-Erkenntnis des Buddho

 

Geöffnet sind die Tore des Unvergänglichen für die,
welche hören wollen.
                                                              Der Buddha

 

 

In Majjhima-Nikāya 35 können wir lesen:

„‘Was meint ihr, Mönche: Ist der Körper unvergänglich oder vergänglich?‘ – ‚Vergänglich, Herr!‘ – ‚Was aber vergänglich ist, ist das Leid bringend oder Freude bringend?‘ – ‚Leid bringend, Herr.‘ – ‚Was aber vergänglich, Leid bringend, dem Wechsel unterworfen ist, – kann man davon mit Recht behaupten: ‚Das gehört mir, das bin ich, das ist mein Selbst?‘ – ‚Wahrlich nicht, Herr.‘ – ‚Was meint ihr, Mönche: Ist die Empfindung, – ist die Wahrnehmung, – sind die Gemütstätigkeiten, – ist das Bewusstsein unvergänglich oder vergänglich?‘ – ‚Vergänglich, Herr!‘ – ‚Was aber vergänglich ist, ist das Leid bringend oder Freude bringend?‘ – ‚Leid bringend, Herr.‘ ‚Was aber vergänglich, Leid bringend, dem Wechsel unterworfen ist, – kann man davon mit Recht behaupten: ‚Das gehört mir, das bin ich, das ist mein Selbst?‘ – ‚Wahrlich nicht, Herr!‘ – ‚Darum, Mönche: Was es auch an körperlicher Form gibt, an Empfindung, an Wahrnehmung, an Gemütstätigkeiten, an Bewusstsein: Jede körperliche Form, jede Empfindung, jede Wahrnehmung, jede Gemütstätigkeit, jedes Bewusstsein ist der Wirklichkeit gemäß in vollkommener Weisheit also zu betrachten: Das gehört mir nicht, das bin ich nicht, das ist nicht mein Selbst. Also sehend, Mönche, wird der erlesene Jünger der körperlichen Form überdrüssig, wird er der Empfindung überdrüssig, der Wahrnehmung, der Gemütstätigkeiten, des Bewusstseins. Überdrüssig geworden wird er gleichmütig. Gleichmütig geworden löst er sich los – (von der körperlichen Form, von der Empfindung, der Wahrnehmung, den Gemütstätigkeiten und dem Bewusstsein) –. Im Erlösten steigt das Wissen auf: ‚Ich bin erlöst. Vernichtet ist die Wiedergeburt, zu Ende gelebt der heilige Wandel, ich habe getan, was mir zu tun oblag, ich habe nichts mehr mit dieser Ordnung der Dinge gemein‘.“

(Majjh. 35 u.v.a.)

 

 

Der Anattā-Vāda

Eine weitere Konsequenz der Unerkennbarkeit unseres eigentlichen Selbst[1] ist, dass ich, losgelöst von allem, was in Wahrheit nicht mein Selbst ist, schrankenlos, grenzenlos bin, indem alles Beschränkende, Begrenzende ja eben dem Bereich des Nicht-Selbst, d.h. des Erkennbaren, angehört:

„Befreit von der Körperlichkeit ist ein Vollendeter gar tief, unermesslich, unergründlich wie der Ozean“ (Sam. XLIV, 1).

Die wichtigste praktische Konsequenz aber ist diese: Wenn mein eigentliches Selbst schlechterdings und absolut unerkennbar ist, dann ist also schon die Fragestellung: „Was bin ich? Was ist das Selbst?“ prinzipiell verkehrt, indem diese Frage ja bereits voraussetzt, dass der Attā im Bereich des Erkennbaren liege und deshalb in ihm auch zu finden sei. In der Tat hat ja auch der Vedānta, wie wir gesehen haben, den Ātman noch in diesem Bereich des Erkennbaren gesucht und auch gefunden:

„Er ist von Erkenntnisart, und was von Erkenntnisart ist, das zieht ihm nach“ (Brh.-Upan.).

„Nur aus Sein, Wonne und Denken bestehend ist der Ātman“ (Nrs.-Upan.).

Der Buddha aber musste konstatieren, dass das Selbst als das jenseits des Beilegungshaften liegende Todlose mit der Erkenntnis überhaupt nicht erfasst werden kann, dass es insbesondere auch nicht im Denken bestehen, von Erkenntnisart sein kann, indem er jedes Erkennen, insbesondere auch das Denken, als durch die uns offensichtlich wesensfremden Erkenntnisorgane bedingt durchschaute.

Hiernach muss sich aber jeder, der sein eigentliches Selbst durchgründen will, wenn er das auf dem positiven Weg erreichen will, d.h. also dann, wenn er das Problem dahingehend formuliert: „Was bin ich? Was ist mein Selbst?“ unfehlbar in eine Sackgasse verlieren, muss in „einer Höhle, einer Schlucht der Ansichten“ landen. Der richtige Weg, unserem wahren Selbst wenigstens auf die Spur zu kommen, ist vielmehr nur der, dass man fragt: „Was bin ich auf jeden Fall nicht? Was ist auf jeden Fall nicht mein Selbst?“, kurz, dass man als das Grundproblem nicht aufstellt: „Was ist der Attā?“, sondern „Was ist an-attā?“

Das ist um so unerlässlicher, als auch nur bei dieser Formulierung die wirkliche Überwindung des Bereiches des An-attā, des Nicht-Selbst möglich ist: Sobald irgendetwas Erkennbares an mir oder außer mir auch nur den leisesten Gedanken an mich selbst auslöst, ist das schon ein Beweis, dass ich es auch in irgendeine Beziehung zu mir und damit zu meinem Willen, sei es nun in der Form des Begehrens oder der Abneigung, gebracht habe, womit dieser Wille neue Nahrung erhält und eben damit die Befreiung von ihm hinausgeschoben ist. Kann ich dagegen alles, ausnahmslos alles, auch meinen eigenen Leib, meine Empfindungen, mein gesamtes Erkennen ausschließlich unter dem Gesichtspunkt betrachten: „Das brauche ich nicht, das bin ich nicht, das ist nicht mein Selbst“, dann muss mit der Zeit unfehlbar auch jeder Wille, jeder Wunsch nach dem Bereich des so als an-attā, als mir nicht wesenhaft und unangemessen Erkannten und damit jeder Wille überhaupt erlöschen und so die Erlösung eintreten.

Aus diesen beiden Gründen heißt die Buddhalehre auch die Lehre vom Nicht-Selbst, heißt sie der Anattā-Vāda, im Gegensatz zur Lehre vom Selbst, zum Attā-Vāda des Vedānta. Nicht aber heißt sie etwa so, weil der Buddha im Gegensatz zum Vedānta ein Selbst leugne. (…) Wie ganz Indien hatte auch der Buddha den Attā auf dem indirekten Weg gesucht, indem er vom Attā alles, was nicht der attā ist, absonderte. Aber er ist diesen Weg so radikal und mit solchem Erfolg gegangen, dass sich ihm alles Erkennbare überhaupt, insbesondere auch das Geistige, insbesondere auch das Denken als An-attā und damit als ein von uns zu Überwindendes erwies. Und darum sagt er:

Ihr lehrt den Attā; ich aber lehre nur, was der Attā nicht ist. Ihr sprecht deshalb auch fortwährend vom Attā; ich aber spreche nur vom An-attā, kurz, ihr habt die Attā-Methode, den Attāvāda; ich aber habe die Anattā-Methode, den Anattā-vāda, und habe sie gerade deshalb, weil ich nur so leidlos, selig werden kann. Oder

„könnte man wohl, Mönche, einer solchen Ich-Lehre (Attā-Vāda) anhängen, durch die dem daran Haftenden keine Sorgen, Klagen, Schmerz, Trübsal und Verzweiflung aufsteigen möchten? Kennt Ihr wohl eine solche?“ – „Nein, Herr!“ – „Gut, Mönche, auch ich kenne keine solche.“

Aus diesen Ausführungen ergibt sich wohl ohne weiteres, dass unsere moderne Ausdrucksweise „das Selbst ist transzendent“ nicht etwa die Ausdrucksweise des Attā-Vāda ist, für den das Selbst ja nicht transzendent ist – findet er es ja letzten Endes im reinen Erkennen –, sondern so recht die Sprache des An-attā-Vāda, indem der Satz „das Selbst ist transzendent“ ja eben besagt: „Das Selbst liegt über alle Erkenntnis hinaus, ist schlechterdings nicht ausfindig zu machen.“ Wie töricht, wie unglaublich töricht die Beschuldigung ist, dass, wer die Transzendenz des Selbst lehre, damit dem Attāvāda huldige, wird wohl auch dem Einfältigsten klar, wenn er sich sagen lässt, dass der Buddha eben das, was im Begriff der Transzendenz gedacht wird, sogar dem Wort nach vom Selbst lehrt:

„Nicht bin ich irgendwo, bei irgendwem, in irgendetwas“ (Majjh. 106). —

„Da nun das Selbst, Ihr Mönche, nicht zu finden ist“ (anupala-bhamāne) – „Schon bei Lebzeiten, sag' ich, ist ein Vollendeter nicht ausfindig zu machen“ (ananuvejjo) (Majjh. 22)! —

Weil keine Erkenntnis bis zum Selbst vordringt, deshalb kann man vom Selbst auch schlechterdings nichts, absolut gar nichts aussagen, der Rest ist vielmehr – Schweigen; und bloß dieses Schweigen über das Selbst – nicht mehr! – lehrt der Buddha. Das ist die Anattā-Lehre, der Anattā-Vāda des Buddha!

 


[1]  Das wahre Selbst – nicht zu verwechseln mit dem "Ego" – in der Buddhalehre ist nicht identisch mit dem christlichen Seelenbegriff noch mit dem hinduistischen Ātman.

 

(Georg Grimm „Die Wissenschaft des Buddhismus“, 1. Kap.)

 

 

 


Der vollkommene Anattā-Anblick ist zugleich der Einblick in das Nibbāna

Meine ganze Persönlichkeit, ist nicht mein Ich, nicht mein eigentliches Wesen.

Damit berührt mich aber der Untergang dieser Persönlichkeit und der ganzen durch sie erkannten Welt nicht im Geringsten.

Eben damit tut sich dann aber für mich ein Gebiet unabhängig von dieser Persön­lichkeit und unabhängig von der ganzen Welt auf, ein Gebiet, das nach dem Untergang dieser Persönlichkeit und dieser Welt deren Stelle einnimmt.

Suche ich dieses Gebiet – im Anattā-Anblick – mit dem geistigen Auge zu durchdringen, so verliere ich mich in eine bodenlose Leere, nicht in eine räumliche Leere, sondern in eine Leere für das Denken; denn für dieses bleibt schlechterdings nichts mehr übrig, eben weil alles Erkennbare, auch der Raum, jenem Gebiete wesensfremd ist.

Und doch ist es nicht d a s Nichts, so wenig, als ich selbst zu nichts werde, wenn meine mir wesensfremde Persönlichkeit für immer untergeht. Nur eines erkenne ich unmittelbar:

„Es existiert jenes Gebiet ohne Stützpunkt, ohne Halt“, wenn es auch für „das erkennende Schauen“ einen Abgrund, einen Abyssus darstellt.

Es ist, kurz gesagt, der lebensfreie, immaterielle Zustand, auf den uns bereits früher das logische Denken, ebenfalls unter Führung des Buddha, mit zwingender Notwendigkeit geführt hatte, den also der Heilige im Anattā-Anblick, indem er den gegenteiligen Zustand des Lebens als sich wesensfremd durchschaut, in eben dieser Durchschauung unmittelbar erlebt. Weiteres als diese absolute Realität des lebensfreien Zustandes ist auch für den Heiligen nicht erkennbar.

Und aus diesem Grunde, weil schlechterdings nichts Weiteres an ihm erkennbar ist, lässt sich auch nichts Weiteres von ihm sagen.

Doch nein, es lässt sich viel mehr von ihm sagen. Oder sage ich einem Armen, Kranken, Hungernden, fern von seiner Heimat Weilenden und sich nach dieser Sehnenden nichts, wenn ich ihm sage, dass ich ihn in diese seine Heimat bringen könne als die Stätte, wo seine Armut, seine Krankheit, sein Hunger, wo alle seine ungestillte Sehnsucht für immer behoben sein werde, ohne dass sich neues Leid einstellen kann? Und so lässt sich von jener Stätte des lebensfreien Zustandes unmittelbar erkennen und damit auch sagen, dass es dort kein einziges jener Elemente gibt, die den Samsāra, die Welt, konstituieren, insbesondere keine bewegte Materie und damit überhaupt keine Bewegung.

„Wo aber keine Bewegung ist, da ist Ruhe.“ (Udāna 8, 4)

Weiter lässt sich erkennen und damit auch sagen, dass dort, eben weil dort „nichts ist“, natürlich auch kein Entstehen und kein Vergehen, vielmehr dass es „das Unbewegliche“, „das Unerschütterliche“ ist; und eben deshalb wird unmittelbar erkannt und lässt sich deshalb wiederum auch mitteilen, dass dort auch das Leid der Vergänglichkeit und damit jedes Leiden überhaupt, ja, sogar jegliche Empfindung fehlt.

Aber noch mehr lässt sich sagen: Weil dort jeder Wille, jeder Wunsch für immer erloschen ist, so herrscht dort auch absolute Wunschlosigkeit und damit grenzenlose, wunschlose Seligkeit:

„Es ist eben das Ende des Leidens“, ist eben

„das Friedvolle, das Hocherhabene“:

„Etam santam, etam panitam, yad idam

sabbasankhārasamatho, sabbupadhipatinissaggo,

tankhākkhayo, virāgo, nirodho, n i b b ā n a m:  

das ist das Friedvolle, das ist das Hocherhabene,

nämlich der Stillstand aller organischen Prozesse,

das Sicht-Los-Machen von allen Beilegungen,

die Vernichtung des Durstes,

die Gierlosigkeit,

die Aufhebung der Kausalität,

das Nibbāna“.

Schwer, fürwahr, ist es, alles Erkennbare an uns als uns wesensfremd wirklich in greifbarer Anschaulichkeit zu begreifen.

 

 (Die Wissenschaft des Buddhismus, G.G., S. 87 ff.)

 

 

 

 


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Der Begriff des ATMAN oder ATTA im alten Indien
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