Der Hohe Achtfache Pfad im allgemeinen

 

Daß die meisten Menschen so sorglos dahinleben, hat seinen Grund darin, daß sie die Lage nicht kennen, in der sie sich befinden. Entweder sie reden sich ein, sie seien aus dem absoluten Nichts in diese Welt emporgetaucht und würden mit ihrem Tode ebenso spurlos wieder verschwinden, oder sie betrachten sich als das Produkt eines Schöpfers, der sie nach dem Tode zu sich in sein himmlisches Reich übernehme, indem sie keinen Zweifel darüber hegen, daß die daneben allerdings noch bestehende Hölle immer nur für die anderen bestimmt sei. So ergibt sich sowohl für den Ungläubigen wie für den Gläubigen als die höchste Lebensweisheit, es sich möglichst behaglich auf dieser Welt zu machen, für den ersteren deshalb, weil es doch die höchste Torheit wäre, diese so flüchtige Existenz nicht möglichst auszunützen, für den letzteren aber, weil auch sein Aufenthalt in dieser Welt ein Geschenk seines Gottes ist, das nicht mit Dank zu genießen der höchste Undank wäre.

Die letzte der vier Hohen Wahrheiten bildet also den Schlußstein und die Krönung des gewaltigen Lehrgebäudes des Buddho. Auf diesem Standpunkte steht auch er selbst, wenn er als das größte Unglück, das je seine Jünger treffen könnte, eine etwaige Uneinigkeit über den Inhalt des Weges bezeichnet:

„Wenig läge daran, Anando, am Hader um die Lebensnotdurft oder um die Ordensregel; doch um den Weg, Anando, oder den Pfad, wenn darum unter den Jüngern Hader entstehen sollte, so gereichte solcher Hader gar vielen zum Unheil und Unglück, gar vielen zum Verderben, zum Unheil und Leiden für Götter und Menschen.“ (Majjh. 104)

… die Anlage dieses Weges [ist] mit den drei ersten Wahrheiten bereits gegeben: Es muß jeglicher Durst nach der Welt als die eigentliche und tiefste Quelle alles Leidens restlos zum Verschwinden gebracht werden.

Dieser dürstende Wille aber wurzelt im Nichtwissen, kann also auch nur durch den Eintritt des Wissens behoben werden. Noch bevor wir also den Weg kennen, ist uns schon so viel klar, daß er darauf hinauslaufen muß, allen Durst nach der Welt durch Erkenntnis in uns zu ertöten. Aus dem Bisherigen ergibt sich aber weiterhin auch, daß diese Erkenntnis entsprechend der Art des Nichtwissens, aus welcher jener Durst hervorquillt, eine doppelte sein muß: Wir müssen uns einmal darüber klar werden, daß unsere ganze Persönlichkeit in allen ihren Bestandteilen und damit die ganze Welt für uns im Grunde etwas Fremdes ist, an das wir uns bloß hängen, weil wir glauben, dieses uns im Grunde Fremde besitzen zu müssen, um glücklich zu sein; und dann müssen wir die Bestandteile unserer Persönlichkeit, wie alles in der Welt, als einen für uns leidvollen Besitz und mithin den Glauben, die Persönlichkeit und damit unser Aufenthalt in der Welt seien zu unserem Glücke nötig, als einen Wahn erkennen.

So ist denn diese richtige Anschauung auch das allererste Element des vom Buddho zur Vernichtung des Leidens zusammengestellten Pfades. Er selbst nennt sie Sammā-ditthi, rechte Anschauung: Wir müssen die richtige Anschauung von den Dingen gewinnen, dürfen sie nicht so nehmen, wie sie sich dem oberflächlichen Blicke präsentieren, sondern müssen sie bis auf den Grund durchschauen, so, wie sie wirklich sind, nämlich vergänglich, leidbringend und eben deshalb uns im Grunde unangemessen. Auf die Herbeiführung dieser richtigen Anschauung ist daher auch der Weg im übrigen abgestellt.

Zunächst liegt auf der Hand, daß sie nur durch anhaltende und tiefe Betrachtung erreicht werden kann:

„Zwei Bedingungen, Bruder, liegen der rechten Erkenntnis zugrunde: die Stimme eines anderen und tiefes Nachdenken.“ (Majjh. 43).

Jedes Erkennen [jeder Bewußtseinseindruck] wird von einem Wollen, daß heißt einer Sinnestätigkeit, getragen, da es ja, wie wir wissen, nur durch eine solche ausgelöst wird, ja, jedes Wollen überhaupt ist zunächst nur ein Erkennen-wollen und dann erst ein Besitzen-wollen; zunächst will man sehen, hören, riechen, schmecken, tasten, denken, das heißt mit dem Auge, dem Ohre, der Nase, der Zunge, dem Tastorgan, dem Denkorgan erkennen, was unseren Trieben, unserem Durste, entspricht, um dann erst es sich zuzueignen, indem man wiederum mittels der Erkenntnistätigkeit die Mittel zu seiner Erlangung ausfindig macht und so die Welt zwingt, uns das Gewünschte zu gewähren. So ist also nicht nur das Erkennen als Bewußtsein das Medium, mittels dessen wir überhaupt erst mit der Welt in Verbindung stehen – „hier im Bewußtsein steht das All“ – sondern es ist weiterhin das Licht, das uns den Weg in der Welt zeigt, in dessen Schein wir sie lenken, sie uns dienstbar machen …

Alles in der Welt und von der Welt, einschließlich der Bestandteile unserer eigenen Persönlichkeit, ist unaufhörlichem Wechsel unterworfen, einem steten Wechsel, den wir, wenn wir uns an die Welt ketten, ebenso unaufhörlich in Form von Geburt, Alter, Krankheit, Tod, Kummer, Schmerz und Gram empfinden, so daß wir aus den schmerzlichen Empfindungen überhaupt gar nie ganz herauskommen, während wir, wenn wir alles loslassen, auf alles in der Welt und damit auf diese selbst verzichten, in die hehrste, ungetrübteste, heiligste Ruhe, die durch keinerlei Empfindung mehr gestört wird, eingehen. Angesichts einer solchen Erkenntnis kann kein Durst nach der Welt mehr bestehen, in ihr verwirklicht sich die ganze Wahrheit der Worte des Herrn: „Der Macht des Erkennens ist die Welt unterworfen.“

Die richtige [rechte] Konzentration besteht in der Loslösung des Erkennens oder des Bewußtseins oder des Geistes oder des Denkens – lauter synonyme Ausdrücke – vom Dienste des Durstes. Sie schließt also stets, soweit sie erreicht ist, auch eine Befreiung unserer Erkenntnistätigkeit in sich. Denn die Sklaverei der sechsfachen Erkenntnistätigkeit besteht ja eben darin, daß sie immer wieder im Dienste unserer Triebe oder unseres Durstes nach der Welt tätig werden muß.

„Das Bewußtsein, das unsichtbare, unendliche, wenn man gänzlich aufgibt, dann können Erde, Wasser, Feuer, Luft nicht Fuß fassen, dann hört Lang und Kurz, Klein und Groß, Schön und Unschön, dann hört der sinnenbegabte Körper (nāma-rūpam) gänzlich auf. Durch die Aufhebung des Bewußtseins (Erkennens) hört dann dieses auf.“ (Dīgh. 11, 85)

Mit dem Erlöschen jeglichen Durstes besteht für uns in alle Ewigkeit hinein kein Anlaß mehr, nochmal eine Geistes- oder Erkenntnistätigkeit zu entfalten und damit das Element des Bewußtseins neu erstehen zu lassen, um in seinem Lichte das Gaukelspiel der Welt weiterhin zu genießen.

Rechte Konzentration und rechtes Gedenken bilden nach dem Ausgeführten in der Praxis stets ein unteilbares Ganzes von dem die erstere die Form, das rechte Gedenken aber den materiellen Gehalt darstellt: Solange das rechte Gedenken gegenwärtig ist, ist man auch recht konzentriert und umgekehrt hat man, solange man recht konzentriert ist, auch rechtes Gedenken.

Weil so das konzentrierte Denken die unerläßliche Bedingung für alles Gute, auch den unscheinbarsten guten Gedanken ist, so erhellt gerade hieraus auch, daß sie eine ständige werden, das heißt in Form steter Besonnenheit mehr und mehr zum beherrschenden Faktor des ganzen Lebens gemacht werden muß, wenn anders ein wirklicher moralischer Fortschritt möglich sein soll. So wahr es nämlich einerseits ist, daß die Ertötung der Regungen unserer Leidenschaften nur durch die anschauliche Erkenntnis ihrer Verderblichkeit möglich ist, so sicher ist es andererseits, daß diese anschauliche Erkenntnis eine gegenwärtige sein muß.

Soll die anschauliche Erkenntnis wirksam sein, so muß sie demnach jeden Augenblick bei allem, was wir denken, reden, tun, gegenwärtig sein.

So erweist sich denn der vom Buddho gewiesene Heilsweg als der Weg der Erkenntnis, und zwar der Erkenntnis von der Verderblichkeit des in uns hausenden Durstes nach der Welt. Er ist im Grunde weiter nichts als eine Anleitung zum ständigen, richtigen und möglichst scharfen Denken, – der Buddho nennt es „erkennendes Schauen“ – wobei insbesondere das Denken richtig dann ist, wenn man alles in der Welt, eingeschlossen die fünf Gruppen unserer Persönlichkeit, auf die drei Merkmale (tīni lakkhanāni): vergänglich (anicca), leidvoll (dukkha) und deshalb uns unangemessen (anattā) untersucht.

Dieser Weg allein kann zum Ziele führen, so ausschließlich, als alles Leiden in unserem Durste nach den fünf Gruppen unserer Persönlichkeit und damit nach der Welt gründet und als dieser dürstende Wille durch unsere Unkenntnis seiner unheilvollen Folgen bedingt ist.

 

(G.Grimm, Die Lehre des Buddho, S. 281 ff.)