Die Sankhārā


Georg Grimm übersetzt diesen Begriff mit Hervorbringungen, bzw. mit Gemütsregungen, was die vierte Haftensgruppe betrifft.

 

„Die vierte der fünf die Persönlichkeit aufbauenden Gruppen (khandhā) ist die Gruppe der sankhārā, der sankhāra-khandho. Das Verständnis des Wortes sankhāro ist grundlegend für das Verständnis der Lehre des Buddho überhaupt.“ (Die Lehre des Buddho, S. 47, Anm. 28)

 

„Wie die Kausalitätskette im allgemeinen, so hat auch speziell der Begriff Sankhāro bei den europäischen Gelehrten die verschiedensten Deutungen erfahren. Und doch ist auch er so klar wie die Kausalitätskette selber. Sankhāro kommt vom Verbum sankharoti, das dem lateinischen conficere entspricht, indem es wörtlich „zusammenmachen“, „zusammenfügen“ bedeutet. Das Participium perfecti bedeutet also „zusammengemacht“, „zusammengefügt“, im Sinne von „geschaffen“, „hervorgebracht“ (fabriziert). Es kann nach dem Kanon von allem in der Welt gebraucht werden: schlechthin alles ist sankhatam, zusammengemacht, zusammengefügt, und eben dadurch geschaffen, hervorgebracht. Das Material, aus dem es zusammengefügt ist, sind die sechs Elemente Erde, Wasser, Feuer, Luft, Raum, Bewusstsein, welche Elemente nach dem Buddho die alleinigen Komponenten der Welt darstellen.“ (Die Lehre des Buddho, S. 204)

 

„Was die vier Elemente, soweit sie unseren Körper aufbauen, von den Elementen in der äußeren Natur unterscheidet ist nur ihre Organisierung die sie durch die Assimilation erfahren, d.h. ihre Fähigmachung zur Auslösung der Elements des Bewusstseins, welche Organisierung jenem Prozess verglichen werden kann, durch welchen Eisen magnetisch gemacht und dadurch fähig wird, andere Eisenteilchen anzuziehen. So ist also unser Körper eine Ansammlung von organisch gemachten Stoffen der Außenwelt. Die Organisierung der Stoffe und die Überführung der organisierten Stoffe in die körperliche Form erfolgt durch Kräfte, näher Energien (sankhārā), und durch weitere Energien erfolgt dann die Aktuierung der körperlichen Form als Sechssinnenmaschine. Eben in diesen an den Stoffen unseres Körpers in Form unaufhörlicher Hervorbringungen tätigen Energien besteht das Phänomen des Lebens, so dass dieses also nichts weiter als „ein Haufen von Hervorbringungen“ (sankhārā) an den vier Hauptelementen ist. In dieser Form begegnen wir den Phänomenen Kraft und Stoff in den Reden des Buddha auf Schritt und Tritt.“ (Die Wissenschaft des Buddhismus, S. 338)

 

„Das zu sankhatam gehörige substantivische Tätigkeitswort ist Sankhāro, also „das Zusammenmachen“, „Zusammenfügen“, „die Zusammenfügung“, „Hervorbringung“:

„Mönche, die Sankhārā haben ihre Benennung daher, dass sie das, was sankhatam ist, hervorbringen (sankharonti)“.

Deshalb ist der Begriff Sankhāro ebenso umfassend wie der von sankhatam: schlechthin alles ist sankhatam, hervorgebracht, und schlechthin alles, was sankhatam ist, beruht auf einem Sankhāro, einer Hervorbringung. Dabei bedeutet Sankhāro in erster Linie den Akt des Hervorbringens, kann aber auch das Hervorgebrachte bezeichnen, also auch den Sinn von sankhatam haben, geradeso wie unser Wort „Hervorbringung“. Ein typisches Beispiel hierfür ist der stehende Satz: „sabbe sankhārā aniccā sabbe sankhārā dukkhā: alle Hervorbringungen sind vergänglich, alle Hervorbringungen sind leidbringend.“ (Die Lehre des Buddho, S. 204)

 

„Mönche, die Sankhārā (Hervorbringungen) heißen so, weil sie das, was sankhatam (hervorgebracht) ist, hervorbringen (abhisankharonti). Und was bringen sie hervor? Sie bringen die körperliche Form um der Körperheit willen als Hervorgebrachtes hervor, bringen die Empfindung um der Empfindung willen als Hervorgebrachtes hervor, bringen die Wahrnehmung um der Wahrnehmung willen als Hervorgebrachtes hervor, bringen die schöpferischen Geistestätigkeiten um ihretwillen als Hervorgebrachtes hervor, bringen das Erkennen um seinetwillen als Hervorgebrachtes hervor“ (Sam. 22, 79). (Die Lehre des Buddho, S. 207)

 

„Außer den drei ersten Haftensgruppen, körperliche Form, Empfindung, Wahrnehmung, gibt es an der Persönlichkeit nur noch das Denken: „Was man empfindet, nimmt man wahr; was man wahrnimmt, denkt man (vitakketi)“ haben wir oben gesehen. Der Durst und das Anhaften gehören nicht zum Persönlichkeitsgetriebe. Eben deshalb heißen die fünf Gruppen ja Haftensgruppen: man haftet an ihnen infolge des Durstes nach ihnen: „Man haftet an den zum Anhaften geeigneten Gruppen. Deshalb werden sie die Haftensgruppen genannt.“ (Sam. 22, 48)

Also steht von vornherein fest, dass die beiden letzten Haftensgruppen im Denken bestehen müssen. Ja, wir können auch ohne weiteres die Art des Denkens der vierten Haftensgruppe von der Art des Denkens der fünften Haftensgruppe scheiden. Die vierte Haftensgruppe führt den Namen „Hervorbringungen“ par excellence. Das Denken der vierten Haftensgruppe ist also das hervorbringende Denken, das will sagen, das im Dienste des dürstenden Willens stehende Denken, das unablässig bemüht ist, den unersättlichen Rachen dieses dürstenden Willens mit Nahrung zu stopfen, auf dass er uns nicht fortwährend quäle, indem er das herbeizuschaffen trachtet, wonach er giert.

 

Demgegenüber steht dann das Denken der fünften Haftensgruppe, das Erkennen[1] genannt. Es ist das Erkennen par excellence, das reine Erkennen, das nicht mehr zur Befriedigung eines dürstenden Willens hervorbringt, sondern dem ganzen Persönlichkeitsgetriebe und auch dem dürstenden Willen selber, kritisch beobachtend und jeweils nüchtern den objektiven Tatbestand feststellend, gegenübersteht. Es will, vom neu erweckten Willen nach reiner Erkenntnis gezeugt, nur mehr wissen. (Die Lehre des Buddho, S. 210 f.)

 

„Dieses Erkennen der fünften Haftensgruppe tötet also, wie wir das später noch näher sehen werden, den dürstenden Willen und macht damit auch das gesamte, der Befriedigung dieses dürstenden Willens dienende schöpferische Denken der vierten Haftensgruppe und damit alle Hervorbringungen überhaupt überflüssig, weshalb die gesamte Hervorbringungstätigkeit für ewig eingestellt wird. Auch die reine Erkenntnistätigkeit selber hat dann ihr Endziel erreicht und geht deshalb ehestens gleichfalls zur Rüste, wie auch das später noch eingehend behandelt werden wird.

Der Buddho nennt diese reine Erkenntnistätigkeit der fünften Haftensgruppe das erkennende Schauen (ñānadassanam)[2]. Dasselbe bildet in seiner stufenweisen Verwirklichung als das große Instrument zur Vernichtung des Nichtwissens den Kern des Erlösungsweges des Buddho, wie sich bei der späteren Darlegung dieses Weges zeigen wird.

Aus dieser Gegenüberstellung der beiden Denkarten der vierten und fünften Haftensgruppe wird auch ohne weiteres ersichtlich, warum der Buddho diese Denkarten in zwei selbständige Gruppen geschieden hat. Sie sind in seiner Lehre von geradezu grundlegender, bahnbrechender Bedeutung: die vierte Haftensgruppe zeigt die Bahn des Denkens, die in die Welt hineinführt, die fünfte Haftensgruppe bricht die Bahn, die aus der Welt herausführt. Zugleich wird durch diese Gegenüberstellung der Begriff der Sankhārā, der schöpferischen Denkakte, scharf umrissen.“ (Die Lehre des Buddho, S. 212)

 

Je gründlicher die Haftensgruppen: Körperlichkeit, Empfindung, Wahrnehmung, Gemütstätigkeiten (sankhāra) durchschaut werden; d.h. als an-atta – Nicht-Ich, umso leichter wird ein allmähliches Abstandnehmen von ihnen werden.

 

„Der Buddho stellt also als Kriterium für die Auffindung der Grenze zwischen Ich und Nicht-Ich den Satz auf: Wobei ein Entstehn und Vergehn wahrgenommen wird, geht es nicht an zu behaupten: ‚Das ist mein Selbst, das bin ich‘. Man muss sich über diesen Satz ganz klar werden, um ihn trotz seiner genialen Einfachheit in seiner ganzen Tiefe und inneren Evidenz zu durchschauen. Wohl gemerkt, der Buddho sagt nicht: Was entsteht und vergeht, ist nicht mein Selbst, nicht mein Ich – über diesen Satz ließe sich streiten, indem nicht ohne weiteres einzusehen wäre, warum denn nicht auch ein Vergängliches mein Wesen sollte konstituieren können – sondern er sagt: „Wobei ich ein Entstehen und Vergehen wahrnehme, das kann nicht mein Selbst, mein Ich sein“ – und diesen Satz wird wohl kein denkendes Wesen in Zweifel ziehen. Denn was ich entstehen und vergehen sehe, muss eben deshalb logisch zwingend ein von mir Verschiedenes sein. … Gerade dadurch nämlich, dass ich selbst vom Hinschwinden nicht mitbetroffen werde, wird ja auch der Schmerz, das Leid infolge Vergänglichkeit, überhaupt erst möglich. Denn dieses Leid – und ein anderes kennt der Buddho, wie genugsam ausgeführt, nicht – besteht ja eben darin, dass der gewollte Zustand einem ungewollten Platz macht. Das setzt aber doch voraus, dass etwas da ist, was diesen Übergang aus dem gewollten in den ungewollten Zustand an sich erfährt, was also selbst diesen unaufhörlichen Wechsel nicht mitmacht, sondern ihn im Gegenteil schmerzlich empfindet, und dieses Etwas bin eben – ich selbst mit der ganzen Realität dieses Schmerzes, den ich an mir empfinde. Ich kann also unmöglich mit dem identisch sein, was mir Schmerz verursacht.“ (Die Lehre des Buddho, S. 95)

 


[1] Viññānam – (von vi + jānāti) – bedeutet wörtlich „Erkennen“. – Da das Element Viññānam allem Erkennen zugrunde liegt, auch jeder noch ganz unbestimmten Empfindung, so können wir in diesem weiten Sinne Viññānam auch sehr gut durch unser deutsches Wort „Bewusstsein“ wiedergeben.

 

[2] Wir können ñānadassanam auch mit „anschauliche Erkenntnis“ übersetzen.