Das Kriterium des Leidens

 

Leiden ist gehemmtes Wollen.

Dieser von Schopenhauer geprägte Satz ist so klar und so wahr, daß er keines weiteren Beweises bedarf. Alles, was meinem Wollen, meinem Wünschen zuwiderläuft, ist Leiden, und alles, was sich zwar meinem Begehren gemäß, aber unter Widerständen vollzieht, ist insoweit ebenfalls Leiden. Von dieser selbstverständlichen Definition des Leidens geht deshalb auch der Buddho aus, wenn er in der ersten der vier Hohen Wahrheiten das Leiden definiert, wie folgt:

„Geburt ist Leiden, Alter ist Leiden, Krankheit ist Leiden, Sterben ist Leiden, mit Unliebem vereint sein, ist Leiden, von Liebem getrennt sein, ist Leiden, nicht erlangen, was man begehrt: Das ist Leiden.“ (Mahāv. 1,9)

 

Glück ist Willensbefriedigung, Leid ist Willenshemmung.

Nun ist jedes Ereignis in der Welt nicht etwas für sich Bestehendes, sondern, wie es selbst die Wirkung einer Ursache war, auch seinerseits wieder Ursache von neuen Wirkungen.

Real ist immer nur die Gegenwart, also auch immer nur die Willensbefriedigung und damit das Glück, beziehungsweise die Willenshemmung und damit das Unglück, das ich gerade jetzt, im gegenwärtigen Augenblick, empfinde. Das bereits der Vergangenheit angehörende Glück oder Unglück ist, wie alles Vergangene, nichts weiter als ein wesenloses Schemen; insbesondere ist vergangenes Wohl, in Beziehung zu meinem gegenwärtigen Wehe gebracht, höchstens geeignet, das letztere zu vergrößern, entsprechend dem Gesetz, daß ein Fall desto schmerzlicher wirkt, aus umso größerer Höhe er erfolgt.

Hiernach kommt es also für die Bewertung des Lebens als glücklich oder leidvoll auf den jeweiligen letzten Augenblick und letzten Endes auf den letzten Bewußtseinszustand vor dem Tode an. Denn nur diese Gegenwart wird dann real sein:

Fühle ich mich in diesem Moment wohl und damit glücklich, so zählt dem gegenüber ein ganzes Leben voll des schwersten Leidens nichts, und fühle ich mich in diesem Augenblick unglücklich, so wird dieses Gefühl selbst durch die glücklichste Vergangenheit nicht gemildert, vielmehr durch den schrecklichen Kontrast zu dieser nur noch ins Unerträgliche gesteigert.

 

Das eigentliche und letzte Kriterium des Leidens ist die Vergänglichkeit:

„Was vergänglich ist, ist leidvoll.“  (Sam. 35, 1)

 

In der Tat bildet dieser Satz das granitene Fundament, auf dem sich die ganze Lehre des Buddho vom Leiden aufbaut:

„Daß es drei Empfindungen gibt, habe ich gelehrt:

Freude, Leid und was weder Freude noch Leid ist …

Und wiederum habe ich gelehrt:

Was immer empfunden wird, gehört dem Leiden an.

So habe ich allein im Hinblick auf die Unbeständigkeit der Erscheinungen gesagt, daß, was immer empfunden wird, dem Leiden angehört, im Hinblick darauf, daß die Erscheinungen der Vernichtung, dem Untergang unterworfen sind, daß die Freude an ihnen erlischt, daß sie dem Aufhören, der Wandelbarkeit unterworfen sind.“  (Sam. 36, 11)

 

Alle Erscheinungen sind unbeständig, sind der Vernichtung, dem Untergang unterworfen.

Das nun aber wirklich und im vollen Umfange klar zu erkennen, ist das, worauf alles ankommt.


 (G.Grimm, Die Lehre des Buddho, S. 29 ff.)