Der Syllogismus

 

Dieser Syllogismus ist der Ausgangspunkt für das Verständnis der Lehre des Buddho, in den durch die Meditation herbeigeführten Möglichkeiten findet er seine Krönung. In der Richtung des Strebens, die er angibt, zeichnet sich zugleich das höchste Ziel ab, das im erkennenden Schauen zu immer größerer Gewissheit wird.

 

"Wann ist nun eine Wahrheit in sich evident, klar sichtbar? Anders ausgedrückt: Welche Erkenntnis ergibt offensichtliche Wahrheit? Das wissen sehr Wenige. Wenn man recht klug ist, meint man, Wahrheit sei gleichbedeutend mit unmittelbarer Anschauung. Aber die Anschauung ist lediglich die Quelle der Wahrheit[1].

 

Wahrheit ist Wissen und jedes Wissen ist ein Urteil und jedes Urteil ist das Werk der Urteilskraft, also eine Vernunfttätigkeit. Jede Vernunfttätigkeit aber besteht im Schlussfolgern mit Obersatz, Untersatz und Schlusssatz.

Wenn ich z.B. die Wahrheit ausspreche: »Ich bin sterblich«, so beruht diese Wahrheit auf der Schlussfolgerung, dem Syllogismus:

»Alle Menschen sind sterblich. (Obersatz)

Ich bin ein Mensch. (Untersatz)

Also bin ich sterblich.« (Schlusssatz)

 

Das gilt selbst für so selbstverständliche Wahrheiten wie:

»Die Erde existiert«. Der zugrunde liegende Syllogismus heißt hier:

»Was ich wahrnehme, existiert.

Die Erde nehme ich wahr.

Mithin existiert sie.«

 

Wenn sich der Mensch bei solchen Sätzen seiner Schlussfolgerung nicht bewusst wird, so offenbart das nur, mit welcher Selbstverständlichkeit jedes Lebewesen, auch das Tier, seine Schlussfolgerungen zieht.

 

Ist aber jedes Wissen ein Urteil und beruht jedes Urteil auf einer Schlussfolgerung, dann muss sich auch alles Wissen beweisen lassen. Denn unter einem Beweis versteht man ja nur die Aufzeigung der Schlussfolgerung, auf der eine behauptete Wahrheit beruht, so dass also wahr auch nur ist, was und so weit es sich beweisen lässt[2].

 

Eben deshalb sagt ja auch Kant, dass man, wenn man sich über die Richtigkeit eines Satzes nicht klar werden könne, ihn nur in die Form einer logischen Schlussfolgerung bringen dürfe – (Logos heißt Vernunft)[3]

 

Man darf also die Anschauung dem Syllogismus nicht entgegenstellen, sondern beide müssen sich zur Einheit verbinden. Der Syllogismus selbst muss in seinen beiden Prämissen, seinem Ober- und Untersatz, erlebt werden, d.h. die Anschauung muss das granitne Fundament bilden, aus dem die Prämissen geschöpft sind. Ein solcher Syllogismus ist das Produkt vollkommen richtigen Denkens und gewährt eben deshalb unfehlbare Sicherheit, vollkommene Erkenntnis. Das meint man im Grunde ja auch nur, wenn man, wie das in der Folge auch in diesem Werke geschehen wird, von der untrüglichen Sicherheit der anschaulichen Erkenntnis spricht.

 

Das Staunenswerteste, ganz einzige aber, das der Buddho mit keinem Zweiten der Welt teilt, ist das Folgende: Er hat nicht nur wie kein anderer das große praktische Problem herausgeschält, wie wir uns vollkommen leidfrei und unbedingt selig machen können, sondern er hat dieses Kernproblem unmittelbar auf das Urproblem unseres tiefsten Wesens zurückgeführt, und zwar – das ist das ganz Einzige – auf einen einzigen Syllogismus von solcher Einfachheit, dass ihn bei gutem Willen schließlich auch ein kluger Schäfer in seiner ganzen überwältigenden Gewissheit einsehen und erleben kann. Dieser Syllogismus ist folgender:

 

[Obersatz:] »Was ich an mir entstehen und vergehen und deshalb mit dem Eintritt dieser Vergänglichkeit mir Leiden bringen sehe, das kann nicht ich selber sein.

[Untersatz:] Nun sehe ich alles nur immer Erkennbare an mir entstehen und vergehen und – mit dem Eintritt dieser Vergänglichkeit – mir Leiden bringen.

[Schlusssatz:] Also ist nichts Erkennbares mein Ich.«

 

Das besagt: Weder mein Körper noch auch mein Geist ist mein substanzielles Ich, vielmehr sind Körper und Geist nur unwesentliche »Beilegungen« von mir, deren ich mich wieder entledigen kann, um dann als ein »Vollendeter, tief, unermesslich, unergründlich wie der große Ozean« in die absolute Wirklichkeit, das Nibbānam, in dem alles Erkennbare erloschen ist, »in unvergänglicher Seligkeit« »unterzutauchen«; »Friedvoll ist dieser Zustand, hocherhaben ist dieser Zustand.«

 


[1] Die Anschauung oder unmittelbare Wahrnehmung ist eine Wahrnehmung der fünf äußeren Sinne, eine sinnliche Wahrnehmung, oder eine anschaulich unmittelbare Wahrnehmung vermittels des sechsten, des anschauenden Denksinnes. Diese letztere Wahrnehmung beschränkt sich auf die Anschauung des Raumes, des Erkennens selbst als solchen und endlich des völlig objektlosen Zustandes.

Diese unmittelbare – sinnliche oder geistig anschaulich unmittelbare – Wahrnehmung ist noch völlig wort- und begrifflos. Eben deshalb ist sie als solche auch nicht durch Worte, sondern nur durch Überführung in anderweite Anschauung etwa auf dem Wege des Kunstwerks mitteilbar.

 

[2] Groß ist die Gefahr des Irrtums, wenn der Begriff oder das Urteil nicht unmittelbar, sondern erst durch Vermittlung mehrerer oder gar einer ganzen Reihe von Schlussketten auf die zugrunde liegende anschauliche Erkenntnis und damit auf die Wirklichkeit zurückgeführt werden kann im Gegensatz zu jenen Begriffen und Urteilen, welche in ihren Prämissen unmittelbar in der Anschauung gründen. Und eben diese Gefahr meint man, wenn man von der Minderwertigkeit bloß bewiesener Wahrheiten spricht.

 

[3] Intuition, Anschauung hat auch das Tier, aber noch sehr wenig Reflexion. Handeln auf Grund bloßer Intuition ist gleichbedeutend mit impulsivem Handeln, das von dem von der Reflexion, von dem prüfenden und vergleichenden Nachdenken, geleiteten bei weitem überragt wird. Wenn unsere Zeit auch hier wieder ihre »Umwertung aller Werte« vornimmt, indem sie die Intuition über die Reflexion stellt, so ist auch das nur ein weiteres Zeichen der Dekadenz. Die Entwicklung hat auch hier von dem einen Extrem des ausschließlichen Geltenlassens der Vernunfttätigkeit unter fast völliger Ausschaltung der Intuition, wie sie der Rationalismus gezeitigt hatte, zum anderen Extrem der Verhimmelung der »reinen Intuition« als ausschließliche Erkenntnisquelle geführt, wie sich unser ganzes Zeitalter ja durchaus in Extremen, und zwar eben in denen nach der Richtung der Dekadenz, bewegt. Reflexion »ist die zweite Potenz des Erkennens und ihre Ausübung erfordert Anstrengung« (Schopenhauer, W.a.W.u.V. II, 8. Kap.), allein schon ein hinreichender Grund, sie als unmodern zum alten Eisen zu werfen. Wie überall, so liegt auch hier die Wahrheit in der Mitte: Intuition und Reflexion gehören untrennbar zusammen, indem nur eine Reflexion, die sich durchaus auf die Anschauung gründet und nie über sie hinausgeht, Wissen und damit Wahrheit bringt.

 

 (G. Grimm, Die Lehre des Buddho, Einführung, S. XXXVIII ff.)

 

 

 

Der Syllogismus ergibt sich aus Kanonstellen, die immer wieder angeführt werden; sie haben folgenden Inhalt, z. B. in Sam. XXII, 18-20:

 

Die Persönlichkeit als Eigner der drei Merkmale.  

 

1. Der Körper, ihr Mönche, ist veränderlich, und die Ursache, sowie die Bedingung für das Zustandekommen des Körpers, – auch das ist veränderlich. Wie sollte, ihr Mönche, der aus Veränderlichem geborene Körper beharrend sein?

Die Empfindung, ihr Mönche, ist veränderlich, und die Ursache, sowie die Bedingung für das Zustandekommen der Empfindung, – auch das ist veränderlich. Wie sollte, ihr Mönche, die aus Veränderlichem geborene Empfindung beharrend sein?

Die Wahrnehmung, ihr Mönche, ist veränderlich, und die Ursache, sowie die Bedingung für das Zustandekommen der Wahrnehmung, – auch das ist veränderlich. Wie sollte, ihr Mönche, die aus Veränderlichem geborene Wahrnehmung beharrend sein?

Die Gemütsregungen, ihr Mönche, sind veränderlich, und die Ursache sowie die Bedingung für das Zustandekommen der Gemütsregungen, – auch das ist veränderlich. Wie sollten, ihr Mönche, die aus Veränderlichem geborenen Gemütsregungen beharrend sein?

Das Bewusstsein, ihr Mönche, ist veränderlich, und die Ursache, sowie die Bedingung für das Zustandekommen des Bewusstseins, – auch das ist veränderlich. Wie sollte, ihr Mönche, das aus Veränderlichem geborene Bewusstsein beharrend sein?

 

2. Der Körper, ihr Mönche, ist leidvoll, und die Ursache, sowie die Bedingung für das Zustandekommen des Körpers, – auch das ist leidvoll. Wie sollte, ihr Mönche, der aus Leidvollem geborene Körper glückbringend sein?

Die Empfindung, ihr Mönche, ist leidvoll, und die Ursache, sowie die Bedingung für das Zustandekommen der Empfindung, – auch das ist leidvoll. Wie sollte, ihr Mönche, die aus Leidvollem geborene Empfindung glückbringend sein?

Die Wahrnehmung, ihr Mönche, ist leidvoll, und die Ursache, sowie die Bedingung für das Zustandekommen der Wahrnehmung, – auch das ist leidvoll. Wie sollte, ihr Mönche, die aus Leidvollem geborene Wahrnehmung glückbringend sein?

Die Gemütsregungen, ihr Mönche, sind leidvoll, und die Ursache, sowie die Bedingung für das Zustandekommen der Gemütsregungen – auch das ist leidvoll. Wie sollten, ihr Mönche, die aus Leidvollem geborenen Gemütsregungen glückbringend sein?

Das Bewusstsein, ihr Mönche, ist leidvoll, und die Ursache, sowie die Bedingung für das Zustandekommen des Bewusstseins, – auch das ist leidvoll. Wie sollte, ihr Mönche, das aus Leidvollem geborene Bewusstsein glückbringend sein?

 

3. Der Körper, ihr Mönche, ist nicht das Ich, und die Ursache, sowie die Bedingung für das Zustandekommen des Körpers, – auch das ist nicht das Ich. Wie sollte, ihr Mönche, der aus dem Nicht-Ich geborene Körper das Ich sein?

Die Empfindung, ihr Mönche, ist nicht das Ich, und die Ursache, sowie die Bedingung für das Zustandekommen der Empfindung, – auch das ist nicht das Ich. Wie sollte, ihr Mönche, die aus dem Nicht-Ich geborene Empfindung das Ich sein?

Die Wahrnehmung, ihr Mönche, ist nicht das Ich, und die Ursache, sowie die Bedingung für das Zustandekommen der Wahrnehmung, – auch das ist nicht das Ich. Wie sollte, ihr Mönche, die aus dem Nicht-Ich geborene Wahrnehmung das Ich sein?

Die Gemütsregungen, ihr Mönche, sind nicht das Ich, und die Ursache, sowie die Bedingung für das Zustandekommen der Gemütsregungen, – auch das ist nicht das Ich. Wie sollten, ihr Mönche, die aus dem Nicht-Ich geborenen Gemütsregungen das Ich sein?

Das Bewusstsein, ihr Mönche, ist nicht das Ich, und die Ursache, sowie die Bedingung für das Zustandekommen des Bewusstseins, – auch das ist nicht das Ich. Wie sollte, ihr Mönche, das aus dem Nicht-Ich geborene Bewusstsein das Ich sein?

(Seidenstücker, Pali-Buddhismus, 1923, S. 23 ff.)

 


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