Die Bedingungen des Durstes

 

Wir sind in der Welt, weil wir Durst nach ihr hatten, und wir sind gerade in einer solchen Welt, wie der unsrigen, weil wir einen Durst hatten, der nach den ewigen Gesetzen uns gerade in diese Welt führen mußte.

Denn der Durst nach Dasein und Wohlsein erfüllt uns vom ersten Augenblick unserer Existenz an, ja durch alle unsere fortlaufenden Existenzen hindurch so unaufhörlich und mit einer solchen Macht, daß sogar der gewaltige Schopenhauer zum Schlusse kam, beim Willen, also eben dem Durste, sei kein Entstehen und Vergehen zu beobachten, er sei vielmehr, wie selbst ursachlos und unbedingt, so auch nie Ursache eines anderen; alles andere außer ihm, insbesondere auch unsere eigene Persönlichkeit, sei also auch nicht Wirkung, sondern vielmehr Erscheinung von ihm, kurz, er sei die unmittelbare Auswirkung unseres Wesens selbst, das in ihm sich darstelle, oder in den Worten des Buddho, er sei unser leibhaftiges, wirkliches und wahres Selbst, indem von ihm gelte: „Das bin ich, das gehört mir, das ist mein Selbst“, ein Standpunkt, den praktisch ja auch die Menschheit in ihrer Gesamtheit von jeher einnimmt.

Die Frage ist also nunmehr: Wovon ist dieser Durst nach Dasein abhängig, dieser Durst, der sich vor allem im Momente des Sterbens geltend macht, indem er immer wieder ein Anhaften an einem neuen Keim herbeiführt? Welche Grundvoraussetzung muß vorliegen, daß er in uns entstehen, sich erheben kann?

Der Buddho sagt es uns in den Worten: „Wenn gefragt würde: ‚Von was ist der Durst abhängig‘? – so wäre zu erwidern: ‚In Abhängigkeit von der Empfindung entsteht der Durst‘.“

Auch das ist ohne weiteres verständlich. Ohne den Anreiz einer Empfindung gibt es kein Begehren. Wenn jegliche Empfindung gänzlich und für immer verschwunden ist, dann ist es auch mit jedem Wollen irgendwelcher Art, mit jedem Durste für immer vorbei: Ein vollständig empfindungsloser Mensch will nichts mehr, hat keinerlei Durst nach irgendetwas mehr, und wenn er für immer empfindungslos geworden ist, kann sich auch in alle Ewigkeit dieses Phänomen des Durstes nicht mehr an ihm zeigen …

Wir wissen, daß wir dem Leiden nur dann dauernd entrinnen können, wenn es uns gelingt, für immer aus dem Samsāro, dem Kreislauf der Wiedergeburten, herauszutreten, wenn wir also künftig keiner neuen Geburt, mithin keiner Neubildung des „körperlichen Organismus mitsamt dem Bewußtsein“ mehr ausgesetzt sind. Denn sobald der Vorgang, in welchem diese Neubildung sich vollzieht, eben die Geburt im Sinne des Buddho, auch nur eingeleitet ist – durch unsere Empfängnis im Mutterleibe – sind wir für die ganze Dauer des Bestandes dieses sich neu bildenden „mit Bewußtsein behafteten Körpers“ wiederum unlöslich an ihn gebunden – nur im Momente des jeweiligen Todes können wir ja gänzlich aus dem Samsaro heraustreten. Alles Leiden gründet also in dem körperlichen Organismus mitsamt dem Bewußtsein“, welch’ ersteren wir eben deshalb wie die Sechssinnenmaschine im allgemeinen so vor allem auch die Leidensmaschine im besonderen nennen konnten. Aus diesem Grunde waren wir auch schon gleich am Anfange unseres Unternehmens, die bedingte Natur alles Leidens aufzuzeigen, genötigt, die Ursache für die Geburt, das heißt eben für die stete Neubildung „dieses körperlichen Organismus mitsamt dem Bewußtsein“, festzustellen. Als solche fanden wir den uns beseelenden Durst nach Dasein, der immer wieder im Augenblick unseres jeweiligen Todes ein Neuanhaften an einem neuen Keim in einem Mutterleibe und damit das Werden eines körperlichen Organismus herbeiführt.

Erwägen wir noch, daß aus dem körperlichen Organismus in Verbindung mit dem Bewußtsein der Durst jeweils speziell in der Weise hervorgeht, daß der erstere als die Sechssinnenmaschine in Tätigkeit gesetzt wird und dadurch in dem zunächst aufflammenden Bewußtsein Empfindung und Wahrnehmung ausgelöst werden, aus welch’ letzteren dann der Durst zeitlebens bis zum Augenblick des Todes stets neu hervorquillt, und daß wir diesen ganzen Tätigkeitsprozeß der Sechssinnenmaschine mitsamt dem Bewußtsein, wie er sich von der Geburt bis zum Augenblicke des Todes hinzieht, als das Getriebe der Persönlichkeit zusammengefaßt haben, so kann der Inhalt der Kausalitätsformel noch prägnanter also zusammengefaßt werden:

Die Persönlichkeit ist – und zwar in ihren beiden Grundgruppen, dem körperlichen Organismus mitsamt dem Bewußtsein, als ihrer realen Unterlage – durch den Durst, dieser aber durch die frühere Persönlichkeit bedingt, genau so, wie die Henne durch das Ei, das Ei aber wiederum durch die Henne bedingt ist.

Mit diesem Resultat ist nun aber die Wurzel des Leidens völlig bloßgelegt; sind wir doch bis zum unermüdlichen Erbauer unseres jeweiligen körperlichen Organismus selbst vorgedrungen, durch welch’ letzteren als die Leidensmaschine alles Leiden für uns zu allererst möglich wird, indem wir dabei diesen Erbauer der Leidensmaschine zugleich als einen Gesellen erkannt haben, der mit unserem eigentlichen Wesen nicht das geringste zu tun hat, dem wir also bloß den Laufpaß zu geben brauchen, um auf ewig von jeder neuen Wiederverkörperung befreit zu sein.

  (G.Grimm, Die Lehre des Buddho, S.175 ff.)

 

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