Die vier Brahma-Zustände

 

Wenn wir den Weg, wie wir ihn bisher kennen gelernt haben, überschauen, so finden wir ihn von der unumschränktesten Nächstenliebe durchsetzt. Insbesondere sind auch die vom Buddho aufgestellten fünf Sittengebote nichts weiter als ein Ausfluß dieser von ihm gelehrten allumfassenden Liebe [Güte].

Der Jünger des Buddho ist „fühlsam, voll Teilnahme, hegt zu allen lebenden Wesen Liebe und Mitleid“. Diese seine allumfassende Liebe erstreckt sich sogar auf die Pflanzenwelt, indem er auch „die Zerstörung von Keim- und Pflanzenleben meidet“; …

Auch im übrigen sind die heiligen Texte geradezu unerschöpflich in dem Preis der Nächstenliebe, so heißt es im Mettāsuttam des Suttanipāto:

„Mögen alle Wesen voll des Glücks und sicher sein!

Alle mögen sie glückselig sein!

Was nur immer es an Lebewesen gibt,

Ob sie bewegen sich, ob festgebannt an ihrem Platze,

Ob lang sie sind, ob kurz, ob groß, ob klein,

Ob mittel oder schmächtig oder dick [stark],

Ob unsichtbar sie weilen oder sichtbar auch,

In der Nähe oder in der weiten Ferne,

Ob sie bereits im Leben stehen oder es ersehnen:

Glückselig sollen alle Wesen sein!

Wie eine Mutter schützt das einzige Kind mit ihrem Leben,

Erwecke grenzenlose Liebe man zu allen Wesen.“

 

Im Anguttara-Nikāyo aber sagt der Meister:

„Wer von meinen Jüngern selbst nur einen Augenblick die geisterlösende Liebe pflegt, dieser Jünger vertieft sich nicht vergebens und folgt der Lehre und Weisung des Meisters, wie viel mehr jene, die den Gedanken der Liebe beharrlich pflegen.“ (Ang. 20, 2; 1, 20)

 

Dabei ist aber diese Nächstenliebe eine Liebe ganz eigener Art. Wenn wir von Liebe sprechen, so verbinden wir damit, und zwar auch bei der reinsten Nächstenliebe, untrennbar den Begriff des Gefühls- oder Triebmäßigen, denken mit anderen Worten stets an eine Neigung zu einzelnen oder allen Menschen oder den Lebewesen überhaupt. Davon ist nun aber die Liebe, die der Buddho lehrt, weit entfernt. Alles, was Neigung und Trieb ist, ist ja nichts weiter als eine Regung des Durstes, vielleicht des Durstes in seiner edelsten Form, aber immerhin des Durstes, der doch gerade als die Quelle alles Unheils um jeden Preis überwunden werden muß. Deshalb ist denn auch die Nächstenliebe des Buddho etwas von jeder Neigung Freies.

Was bleibt aber übrig, wenn man aus der Liebe alles Triebmäßige, alles, was Neigung ist, ausscheidet? Güte. Die Güte ist die durch die Erkenntnis von den Schlacken der Leidenschaft, als welche prinzipiell auch jede bloße Neigung irgendwelcher Art anzusprechen ist, geläuterte Liebe: Leidenschaftliche Liebe ist etwas Alltägliches, leidenschaftliche Güte ein Widerspruch in sich. Die Güte schließt also schon begrifflich alles Triebmäßige aus, sie ist die Liebe der reinen Erkenntnis im Gegensatz zur Liebe des noch von seinen Trieben beherrschten Menschen. Sie ist eben deshalb auch die Liebe des Buddho, weshalb wir sie denn auch weiterhin mit diesem ihren Ehrennamen nennen wollen: Der Buddho lehrt die grenzenlose Güte gegen alles, was da lebt und atmet.

Weil aber die Güte die Frucht der reinen Erkenntnis ist, deshalb kann sie voll auch nur da zur Reife gedeihen, wo diese reine Erkenntnis in ihrer ganzen Fülle das Dunkel des Lebens erhellt, mithin in einem reinen, konzentrierten Geiste, der einzigen Quelle aller solchen Erkenntnis:

„Der Körperberuhigte fühlt Heiterkeit, des Heiteren Geist wird konzentriert. Gütigen Geistes weilend durchdringt er zuerst eine Himmelsrichtung, dann die zweite, ebenso die dritte und die vierte; nach oben und unten und horizontal durchstrahlt er die ganze Welt mit umfassendem, großem, alles Maß übersteigendem gütigem Geiste.“ (Majjh. 7)

Wir sehen: auf welchem Wege man nur immer auf das wirklich Große und Hehre in der Welt trifft, stets stellt es sich als die Frucht der Konzentration des Geistes dar.

Es entsteht nun aber die Frage nach dem letzten und tiefsten Grunde dieser grenzenlosen Anteilnahme gegenüber allem Lebendigen, wie sie in Form der Erweckungen der vier Brahma-Zustände ein wesentliches Erfordernis aller Heiligkeit ist – niemand kann heilig werden, der sie nicht in sich verwirklicht hat. …

Der wahre Grund für jene grenzenlose Anteilnahme, die der Heilige gegen alle Wesen hegt, ist nämlich in dem Satze beschlossen: „Wir sind Wesen, die Wohlsein begehren und Wehe verabscheuen.“ (Majjh. 94 u. 51)

Wenn ich aber im Grunde schrankenlos, grenzenlos und andererseits ein Wesen bin, das Wohlsein begehrt und Wehe verabscheut, dann ist natürlich auch dieses Begehren nach Wohlsein und dieses Verabscheuen des Wehes grenzenlos; …

Daneben aber wird der kämpfende Jünger die Güte auch stets in Form der vier Brahma-Zustände selbst pflegen, soweit er dazu nur immer fähig ist. Nicht nur, daß dies zu seinem eigenen Heile unumgänglich notwendig ist, indem er sich gerade dadurch von jeder Beschränkung auf einen bestimmten Kreis immer mehr befreit und so in Wahrheit wieder zu sich selbst zurückfindet – „wer geistesklar unbegrenzte Güte erweckt, dünn sind die Fesseln (für ihn), der das Vergehen der sterblichen Natur schaut“ (Itiv. 27) – erweist er durch die Pflege der vier Brahma-Zustände auch den anderen Wesen einen viel gewaltigeren Dienst, als er es je durch äußere Werke der Mildtätigkeit vermöchte. Denn er durchstrahlt sie ja alle, soweit sie dafür empfänglich sind, mit seiner Güte, seinem Mitgefühl, seiner Freude und zum Schluß als Höchstem mit seinem unerschütterlichen Gleichmut und senkt so ganz unmittelbar Beruhigung, Heiterkeit und Frieden in sie hinein.

 

Ein heiliger Mönch sendet von seiner einsamen Zelle aus Wellen des Mitgefühls oder der Freude in den Raum hinaus; hunderte von Meilen davon entfernt treffen sie auf ein von Kummer und Gram verzehrtes Gemüt, das, ihm selbst unbegreiflich, eben infolge davon plötzlich Frieden und Heiterkeit in sich aufsteigen fühlt! Wird hier nicht wiederum einmal das Urteil des Normalmenschen, der unterschiedslos jeden Mönch zu einem für die Welt unnützen Müßiggänger stempelt, in sein direktes Gegenteil verkehrt? Sind nicht diese weltflüchtigen Mönche, wenn sie so wirken, in Wahrheit zugleich die größten Wohltäter ihrer Volksgenossen? Fürwahr „Ihr sollt wissen, daß die Leute die nützesten Übungen üben: sie schaffen mehr ewigen Nutzen in einem Augenblick, als alle äußeren Werke, die je auswendig gewirkt werden“, sagt ja auch unser großer deutscher Meister Eckhart.

 

(G.Grimm, Die Lehre des Buddho, S. 370 ff.)

 

 


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SUTTA NIPATA 143-152

Metta-Sutta  

 

Das hohe Lied der Güte


Wem klar geworden, dass der innere Friede des Geistes
das Ziel seines Lebens ist,
der bemühe sich um folgende Gesinnung:
Er sei fähig, aufrecht und freimütig,
ohne Stolz, zugänglich und sanftmütig.
Leicht befriedigt, zufrieden,
nicht zu geschäftig und genügsam.
Die Sinne still, klar der Verstand,
nicht dreist, nicht gierig sei sein Verhalten.
Auch nicht im Kleinsten gäb‘ es ein Vergehen,
wofür ihn Weise tadeln könnten.

Mögen alle Wesen voll des Glücks und Sicher sein,

alle mögen sie geborgen sein.
Was nur immer es an Lebewesen gibt,
ob sie bewegen sich, ob fest gebannt an ihrem Platz,
ob lang sie sind, ob kurz, ob groß, ob klein,
ob mittel oder schmächtig oder stark;
ob unsichtbar sie weilen oder sichtbar auch,
in der Nähe oder in der weiten Ferne,
ob sie bereits im Leben stehen oder es ersehnen:
Glückselig mögen alle Wesen sein!

Niemand betrüge oder verachte einen anderen.
Aus Ärger oder Übelwollen wünsche man
keinem irgendwelches Unglück.
Wie eine Mutter mit ihrem Leben
ihr einziges Kind beschützt und behütet,
so möge man für alle Wesen und die ganze Welt
ein unbegrenzt gütiges Gemüt erwecken:
ohne Hass, ohne Feindseligkeit, ohne Hindernis
nach oben, nach unten und in allen Richtungen.
Im Gehen oder Stehen, im Sitzen oder Liegen
entfalte man eifrig diese Gesinnung.
Dies nennt man Weilen im Heiligen.


Wer sich nicht in Ansichten verliert,
Tugend und Einsicht gewinnt,
dem Sinnengenuss nicht verhaftet ist –
für den gibt es keine Geburt mehr.

Namo Buddhāya!