Aufsätze von Georg Grimm


Der Begriff des ĀTMAN oder ATTĀ im alten Indien

 

Ich selbst bin jenseits des Vergänglichen, d. h. des Zeitlichen. Das ist nicht ein Glaube an ein Transzendentes, (…), sondern die gewisseste Tatsache, die es überhaupt gibt, gewonnen durch die klare Einsicht, dass alles Vergängliche und damit Zeitliche an mir nicht mein wahres Ich sein kann und ich in meinem tiefsten Grunde demnach auch nicht durch die Auflösung dieses Vergänglichen berührt werde.

Wie töricht, zu sagen: Ich muss mich glauben, mich, die einzige Urtatsache, an der ich nicht zweifeln kann! Darauf läuft nämlich jener Vorwurf des Glaubens an ein Transzendentes hinaus. Wie töricht insbesondere, sich zur Stütze dieses Vorwurfs auch noch auf den Buddho selbst berufen zu wollen! Freilich vermeidet der Buddho regelmäßig den Ausdruck Attā oder Ātman (Ich) zur Bezeichnung unseres eigentlichen Wesens. Aber daraus schließen zu wollen, er leugne das Ich, ist (…) doch wohl geradezu ungeheuerlich, besonders wenn man auch noch einzusehen vermag, warum der Buddho den Terminus Ātman im positiven Sinne regelmäßig nicht gebraucht. Unter dem Ātman verstand man nämlich in Indien von jeher, ganz abgesehen von der Identifizierung dieses Ātman mit dem Brahman (der Weltseele), speziell das im Erkennen bestehende Ich. Gerade gegen diese Annahme aber richtet sich die Lehre des Buddho vor allem. Eben deshalb durfte er, wenn er sich nicht der Gefahr aussetzen wollte, im Wichtigsten missverstanden zu werden, das Wort Ātman zur Bezeichnung unseren wahren Wesens nicht gebrauchen. War doch für ihn aus dem angegebenen Grund dieser Terminus ebenso anrüchig geworden, wie beispielsweise das Wort Seele für Schopenhauer (…). Und so bemüht sich denn der Buddho einmal, immer und immer wieder nachzuweisen, dass der wahre Ātman nicht in den Elementen des Erkenntnisprozesses, nämlich dem Körper als dem bloßen Erkenntnis-Apparat, dann den Empfindungen, den Wahrnehmungen, den Gemütstätigkeiten und dem Element des Bewusstseins, bestanden sein könne, und dann prägte er – in bewusster Ablehnung nicht des Ātman an sich, sondern des Ātman-Begriffs, wie er sich im alten Indien herauskristallisiert hatte – für das Ich an sich oder den reinen Ātman, wie er ihn verstand, einen eigenen Terminus. "Tathāgato, ein Vollendeter", welche Bezeichnung eben deshalb nicht bloß – wenn auch vor allem – für den Buddho selbst, sondern für jedes Ich gilt, das sich völlig von seinen "Beilegungen" unabhängig gemacht hat.

Man sollte meinen, diese Sachlage müsste bei unbefangener Lektüre der Meisterreden förmlich in die Augen springen ...


(G. Grimm, Buddhistische Weisheit, 1996, S. 86 ff.)

 


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