Thema und Basis der Lehre des Buddho

 

Weil alles Sein Wollen ist, ist auch alles, was diesem Wollen gemäß geht, Glück, und was es hemmt, Leid – Leid ist gehemmtes Wollen – so daß also Glück und Leid letzten Endes nur die Offenbarung davon sind, wie weit sich der Wille des einzelnen Wesens in der Welt zu behaupten und durchzusetzen vermag.

So offensichtlich das alles für jeden ist, der es einmal gefaßt hat, ebenso zweifellos ist aber auch, daß alles Wollen jeden Augenblick nach allen Richtungen hin gehemmt wird, ja, daß es sogar da, wo es sich zu erfüllen scheint, schließlich in den Folgen sich immer wieder gegen sich selbst kehrt, und daß es zuletzt im unvermeidlichen Tode vollständig Schiffbruch leidet.

Die Sachlage ist mithin die, daß im tiefsten Grunde des Menschen die Überzeugung verankert ist, daß es trotz aller scheinbaren Unmöglichkeit „einen Weg und einen Steg“ geben müsse, der jenseits des Leidens, jenseits des Todes führt.

Das wird gerade in der heutigen Zeit fühlbar, wo die Überzeugung von der Unzulänglichkeit der Religionen allmählich zum Massenphänomen zu werden beginnt und sich „dem Glaubensollen“ immer mehr das „Wissenwollen“ gerade auch in der hier fraglichen Richtung entgegenstellt. Doch wer kann dieses Verlangen befriedigen, nachdem, wie schon angedeutet, hier auch alle unsere Philosophie vollständig versagt? Wir scheinen tatsächlich beim Standpunkte jener Vielen angelangt zu sein, daß hier jedes Wissen unmöglich und, nachdem auch der bloße Glaube unhaltbar geworden sei, nur mehr völlige Resignation übrig bleibe. Doch da kommt eben zur rechten Zeit infolge jener geheimen Zusammenhänge im Weltgeschehen, zufolge deren für jeden unhaltbar gewordenen Zustand sich die Abhilfe, beziehungsweise der Ersatz, einstellt, aus dem fernen Osten, wie schon so oft, das Heil: ex oriente lux.

Nun höre man! Vor Tausenden von Jahren hat in Indien ein Mann gelebt, der einerseits dieses große Urproblem der Menschheit wie kein Zweiter in seiner ganzen Reinheit, frei von allem anderen Beiwerk irgendwelcher Art, insbesondere auch geläutert von den anderweiten trüben Abfallprodukten des metaphysischen Erkenntnistriebes, herauskristallisiert hat und der von sich behauptet, das Problem derart gelöst zu haben, daß jeder aus eigener Anschauung, aus eigener unmittelbarer Einsicht von der Richtigkeit dieser Lösung sich überzeugen, ja sie selbst jederzeit, wenn er nur will, unmittelbar an sich selbst erproben kann, … Ist es da zu verwundern, wenn alle, die an der großen Frage des im Tode kulminierenden Leidens nicht gleichgültig vorübergehen und die dabei als Kinder einer wissenshungrigen Zeit auch nicht mehr glauben können, sondern wissen wollen, sich mehr und mehr auch bei uns um diese Lehre zu scharen anfangen und dieselbe für sie den Thron der nicht mehr befriedigenden Religionen einzunehmen beginnt?

Fürwahr, man nenne einen zweiten Sterblichen, der das große Problem der Menschheit, wie dem Leiden und vor allem dem Tode zu entrinnen sei, auch nur so in seiner ganzen Reinheit aufgestellt und zum ausschließlichen Gegenstande seiner Lehre und seines Lebens gemacht hätte, wie eben der Buddho!

Die Lösung dieses Problems des Leidens war von allem Anfang an die große Aufgabe, die er sich gestellt hatte. Um ihretwillen verzichtete er, der die Anwartschaft auf die Krone seines Vaters, eines indischen Kleinkönigs, hatte, auf diese Krone, auf Reichtum, Weib und Kind und „zog noch in frischer Blüte, glänzend, dunkelhaarig, im Genusse glücklicher Jugend, im ersten Mannesalter, gegen den Wunsch seiner weinenden und klagenden Eltern, mit geschorenem Haar und Barte, mit gelbem Gewande bekleidet, vom Hause fort in die Heimlosigkeit hinaus“ (Majjh. 36), um zu erfahren, ob es nicht etwa möglich wäre, dieser ganzen Leidensverkettung ein Ende zu machen (Majjh. 29).

Diese Botschaft vom Ende des Leidens bildete auch weiterhin das einzige Thema des Buddho, des Erwachten, wie er sich von da an selber nannte. Ihrer Verkündung waren die noch folgenden fünfundvierzig Jahre seines Lebens geweiht. Täglich, ja stündlich, konnte er von sich sagen: „Nur eines verkünde ich heute, wie früher, das Leiden und seine Vernichtung.“ (Majjh. 22)

Es ist also wirklich nur wiederum ein Zeichen der überragenden Weisheit des Buddho, daß er aus dem Meere der Wahrheit, in das er sich versenkt hatte, gerade nur so viel mitgeteilt hat, als zur Rettung aus unserer verzweifelten Lage nötig ist; jedes Mehr würde den Geist nur vom großen Ziele, alle Kräfte auf diese Rettung zu verwenden, ablenken.

Was er der Menschheit gegeben hat, das ist etwas ganz Einziges, etwas, das sie von keinem anderen je wieder erhalten könnte, einen zweiten vollkommen Erwachten ausgenommen: Es ist „die Lehre, die nur Vollkommen-Erwachte zu enthüllen vermögen.“ (Majjh. 63)

Der Buddho bringt uns also zunächst das Ur- und Grundproblem unseres Lebens, wie wir dem Leiden und vor allem dem Leid des Todes entgehen können, wie kein anderer zum Bewußtsein. Er verheißt uns aber weiterhin seine Lösung in der höchstmöglichen Form von Gewißheit, nämlich durch Erweckung unserer eigenen anschaulichen Erkenntnis.

Hiernach verlangt der Buddho von seinen Jüngern nur Eines, nämlich die Beschreitung des von ihm gewiesenen Weges, auf welchem man selber die anschauliche Erkenntnis der Wahrheit gewinnen kann. Dieses Minimum von Vertrauen, wenigstens einmal den von ihm gewiesenen Weg zur Entdeckung der Wahrheit zu versuchen, kann freilich auch er nicht entbehren, kann es wohl aber auch als anima candida, als ein Mann, der offensichtlich keinerlei selbstsüchtige Zwecke mehr verfolgt, verlangen. Ist ihm aber nur erst einmal dieses Mindestmaß von Vertrauen, das in der Welt ganz unentbehrlich ist, entgegengebracht und der von ihm gewiesene Weg, den er mit der Genauigkeit einer Generalstabskarte beschreibt, erst einmal beschritten, dann ergibt sich alles Weitere von selbst, indem schon gar bald die vorausgesagten Lichtblicke und ungeahnten Ergebnisse der Reihe nach, den nach und nach erreichten Stationen eines Wanderers auf der Landstraße vergleichbar, sich einstellen und so das anfängliche Vertrauen von selbst immer mehr in die unerschütterliche Gewißheit von der Richtigkeit auch der noch nicht zurückgelegten Wegstrecke übergeht.

Will so der Buddho die eigene anschauliche Erkenntnis der Wahrheit vermitteln, so entsteht nunmehr die Frage, welcher Art denn diese Anschauung sei, die zu so außerordentlichen Resultaten, wie er sie in Aussicht stellt, führen könnte. Im Objekt kann ihre Besonderheit nicht liegen, da auch der Buddho es mit der uns umgebenden Welt zu tun hat. Es kann also nur eine eigene Art, die Dinge anzuschauen, sein, die er uns lehren will. Und in der Tat besteht ihr Geheimnis in einer außerordentlichen Vertiefung der normalen Betrachtungsart der Dinge.

Nur wer durch Pflege unaufhörlicher Besonnenheit derart, daß er alles, was er denkt, spricht und handelt, mit klarem Bewußtsein vollzieht, seinen Geist nach und nach dahin trainiert hat, daß er anhaltend und ausschließlich sich auch in die Betrachtung des Leidens vertiefen kann, nur der wird „weise durchbohrend“ sich zu jenem Anblick durchringen, bei welchem anfangs in gralsgleicher Ferne, mit der Zeit aber immer deutlicher „jene Insel, die einzige“ aufsteigt, auf der es keinerlei Leiden, insbesondere keinen Tod mehr gibt.

Daraus ergibt sich nun allerdings auch eine gewisse Exklusivität der Lehre des Buddho; setzt sie doch Menschen voraus, denen nicht nur das Leiden als das Urproblem ihres Daseins klar zum Bewußtsein gekommen ist, sondern die auch soweit fortgeschritten sind, daß sie das Heil, wenn ein solches zu erhoffen ist, nicht mehr von außen, sondern nur mehr durch eigene Kraft erwarten, …

Nun mag zugegeben werden, daß allerdings gerade in unserem Zeitalter trotz oder vielleicht wegen seiner hohen Zivilisation[1] die Menschheit in ganz erschreckendem Maße der materialistischen Weltauffassung huldigt, selbst da, wo sie theoretisch verabscheut wird, und ihr eben deshalb jedes Bewußtsein für das Unangemessene ihres Aufenthaltes in dieser Welt und damit für die Notwendigkeit der Erlösung abhanden gekommen ist.

Allein das schließt doch nicht aus, daß es auch in unserer Zeit einige Wenige gibt, die sich von dieser Welt durchaus nicht befriedigt fühlen, die daher über sie hinauszukommen trachten und für welche eben deshalb die bisher für unmöglich gehaltene Botschaft einer Erlösung noch bei Lebzeiten aus eigener Kraft und so, daß man ihren Eintritt anschaulich an sich erfährt, das gewaltigste Ereignis ist, das sich in dieser Welt überhaupt zutragen kann. Für diese ist die Lehre des Buddho modern, so modern, wie nur irgend eine naturwissenschaftliche Disziplin, mit der sie ja die Methode teilt, es sein kann. Für diese Wenigen wird übrigens die Lehre des Buddho, der selbst sie eben deshalb die „zeitlose genannt hat, zu allen Zeiten modern sein, wie denn die definitive Lösung eines Problems für alle Zeiten gültig bleibt.

 

 


[1] Zivilisation allein, ohne Kultur, das heißt ohne Herzensveredelung, ist nichts weiter als eine Verfeinerung der Genußsucht in allen ihren Formen und deswegen im Grunde eine Steigerung des Egoismus und damit des Kampfes aller gegen alle.