Das Subjekt des Leidens

 

Ich bin: das ist der sicherste Satz, den es gibt. Er gehört zu jenen, die vor aller Beweisführung in sich selbst evident sind. Er liegt ja auch tatsächlich schon vor aller Beweisführung; denn was immer ich nur beweisen will, das will ja eben ich und will es für mich beweisen. Er ist auch sicherer als alle Anschauung, dieses im übrigen sicherste Kriterium aller Wahrheit; denn auch jede Anschauung erfolgt schon durch mich, setzt mich also als Anschauendes bereits voraus. Ich kann zweifeln, was ich bin; ich kann sogar zweifeln, ob ich denn wirklich bin, das heißt, ob die Bestimmung meines Wesens durch den Begriff Sein, der ja selbst erst aus der Anschauung gewonnen ist, überhaupt vorgenommen werden kann und darf. Ja, man kann unwiderleglich nachweisen, daß das Ich in der Tat nur ein bloßer Gedanke ist, für den keine substanzielle Entsprechung gefunden werden kann. Das alles kann man. Man kann überhaupt nachweisen, was man will: Die Tatsächlichkeit meines Ich wird dadurch nicht im geringsten berührt …

Das alles ist so klar, daß man es, wie gesagt, nicht beweisen, sondern immer nur durch Worte deutlich machen kann, daß man das Gegenteil, also daß ich überhaupt und in jedem Sinne nicht bin, zwar „zungen“, aber nicht „hirnen“ kann.

Du bist; denn du leidest – ein Satz, der jeden Augenblick als wahr unmittelbar erfahren wird. – Warum wird dann aber hier diese Selbstverständlichkeit, daß ich bin, so urgiert [betont]? Nun ja, weil man gerade Selbstverständliches nur zu leicht übersieht und eben deshalb kurioser Weise sogar auch – sich selbst.

Weil so unser Ich die Urtatsache ist, vor die sich jeder gestellt sieht, deshalb lautet auch die Grundfrage aller Philosophie nicht, wie man gemeinhin annimmt[1]: „Was ist die Welt? sondern: „Was bin ich?“[2] Auf diese Grundfrage wurde auch der Buddho geführt. Denn gerade weil der Mensch ein solcher ist, der leidet, entstand auch für ihn, der sich ja zum Ziele gesetzt hatte, diesem Leiden zu entkommen, von selbst die Frage: Was bin ich? Wollte er die Lösung seiner großen Aufgabe finden, so mußte er auch über diese Frage wenigstens insoweit zur Klarheit kommen, daß er einwandfrei feststellen konnte, ob die Notwendigkeit dieses Leidens in unserer eigenen Wesenheit begründet ist, das Leiden also einen Ausfluß derselben darstellt, oder ob es etwas ist, das nur als ein Fremdes über uns kommt. Nur in letzterem Falle besteht überhaupt die Möglichkeit, sich von ihm loszumachen, sich wieder von ihm zu befreien …

Der Frage nach unserem wahren Wesen kann man aber von zwei Seiten beizukommen suchen: Man kann sie direkt zu beantworten unternehmen oder indirekt, nämlich dadurch, daß man feststellt, was ich auf jeden Fall nicht bin.

Hierbei müssen wir uns natürlich zuvörderst über das Kriterium auseinandersetzen, nach welchem der Buddho die Scheidung zwischen attā und anattā vornimmt. Es ist klar, daß dieses Kriterium entsprechend der ungeheuren Wichtigkeit der mit seiner Hilfe zu beantwortenden Frage über jeden Zweifel erhaben sein muß, so erhaben, daß wir bedingungslos unser ganzes Schicksal auf die sich aus ihm ergebenden Konsequenzen zu gründen entschlossen sind.

Es kann aus fast allen seinen Sutten entnommen werden, ist übrigens im einhundertachtundvierzigsten Suttam der Mittleren Sammlung ausdrücklich formuliert in dem folgenden Satz:

‚Das Auge ist das Ich‘, eine solche Behauptung, die kann nicht angehen; beim Auge wird ein Entstehn und Vergehn wahrgenommen; wobei nun aber ein Entstehn und Vergehn wahrgenommen wird, muß einer ‚Mein Ich entsteht und vergeht‘ als Ergebnis gelten lassen; darum geht es nicht an ‚Das Auge ist das Ich‘ zu behaupten. Somit ist das Auge nicht das Ich.“

 

Der Buddho stellt also als Kriterium für die Auffindung der Grenze zwischen Ich und Nicht-Ich den Satz auf: Wobei ein Entstehn und Vergehn wahrgenommen wird, geht es nicht an zu behaupten: ‚Das ist mein Selbst, das bin ich‘. Man muß sich über diesen Satz ganz klar werden, um ihn trotz seiner genialen Einfachheit in seiner ganzen Tiefe und inneren Evidenz zu durchschauen. Wohl gemerkt, der Buddho sagt nicht: Was entsteht und vergeht, ist nicht mein Selbst, nicht mein Ich - über diesen Satz ließe sich streiten, indem nicht ohne weiteres einzusehen wäre, warum denn nicht auch ein Vergängliches mein Wesen sollte konstituieren können - sondern er sagt: „Wobei ich ein Entstehen und Vergehen wahrnehme,das kann nicht mein Selbst, mein Ich sein“ - und diesen Satz wird wohl kein denkendes Wesen in Zweifel ziehen. Denn was ich entstehen und vergehen sehe,muß eben deshalb logisch zwingend ein von mir Verschiedenes sein.

Gerade dadurch nämlich, daß ich selbst vom Hinschwinden nicht mitbetroffen werde, wird ja auch der Schmerz, das Leid infolge Vergänglichkeit, überhaupt erst möglich. Denn dieses Leid - und ein anderes kennt der Buddho, wie genugsam ausgeführt, nicht - besteht ja eben darin, daß der gewollte Zustand einem ungewollten Platz macht. Das setzt aber doch voraus, daß etwas da ist, wasdiesen Übergang aus dem gewollten in den ungewollten Zustand an sich erfährt, was also selbst diesen unaufhörlichen Wechsel nicht mitmacht, sondern ihn im Gegenteil schmerzlich empfindet, und dieses Etwas bin eben - ich selbst mit der ganzen Realität dieses Schmerzes, den ich an mir empfinde. Ich kann also unmöglich mit dem identisch sein, was mir Schmerz verursacht.

FN 117: Diesen Gedanken kann man auch so ausdrücken: Bei jeder Veränderung geht ein Bestimmtes zugrunde und bildet sich ein Neues. Nun kann das Zugrundegegangene über die vollzogene Veränderung nicht unglücklich sein, weil es ja gar nicht mehr existiert, das Neue aber nicht, weil es die Veränderung nicht an sich erfahren hat, im Gegenteil erst aus ihr hervorgegangen ist, ganz abgesehen davon, daß es eben deswegen, weil es der Veränderung seine Existenz verdankt, sich über sie freuen müßte. Also muß ein Drittes da sein, das die Veränderung als solche schmerzlich empfindet. Dieses Dritte bin ich selbst.

Beide Kriterien für die Feststellung des Bereiches des Nicht-Ich, nämlich das der wahrgenommenen Vergänglichkeit und des Leidens infolge dieser Vergänglichkeit, werden in den Sutten regelmäßig in den Satz zusammengefaßt:

„Ist das unvergänglich oder vergänglich?“ - „Vergänglich, o Herr.“ - „Was aber vergänglich ist, ist das wehe oder wohl?“ - „Wehe, o Herr.“ - „Was aber vergänglich, wehe, ein veränderliches Ding ist, kann man von dem mit Recht sagen: Das bin ich, das gehört mir, das ist mein Selbst?“ - „Sicherlich nicht, o Herr.“

 

Es ist also auch die Frage, was alles Nicht-Ich ist, worin ich also auf keinen Fall bestanden sein kann, eigentlich schon entschieden: Alles ist Nicht-Ich, anattā; auf der einen Seite stehe ich, auf der anderen das ganze gewaltige All, dessen Fortdauer, Entstehen und Vergehen ich an meiner und durch meine Persönlichkeit beobachte.

Wären wir in den fünf Gruppen bestanden, erschöpfte sich also unser Wesen in ihnen, dann müßten sie uns doch auch die natürlichste und vertrauteste Sache von der Welt sein. Sie wären eben unser Ich, unser Selbst und damit erschöpfend erkannt und bestimmt.

Nun versteht man auch, warum wir den fünf Gruppen, die unsere Persönlichkeit aufbauen, gegenüber so ohnmächtig sind: Sie alle folgen ihren eigenen Gesetzen; jene unseres Körpers kennen wir heute noch nicht vollständig, die Empfindungen kommen und gehen wider unseren Willen, Gedanken und Stimmungen quälen uns, ohne daß wir sie zu verscheuchen vermöchten. Wie könnte das alles sein, wenn sie zu uns, zu unserem Wesen gehörten, wenn wir in ihnen bestünden?

Der normale Mensch identifiziert sein Wesen mit den fünf Komponenten seiner Persönlichkeit, indem er es für selbstverständlich hält, daß diese in irgendeiner wesenhaften Beziehung zu seinem eigentlichen Selbst stehen müßten, und eben deshalb in dem Wahne lebt, es sei eben sein Wesen, das sich in seiner Persönlichkeit auswirke, sich als solche darstelle. „Wie kann, Herr, der Glaube an Persönlichkeit als unser Wesen aufkommen?“ - „Da ist einer, Mönche, ein gewöhnlicher Mensch, der sich nicht informiert, der nicht vermag die Hohen zu erkennen, die Hohe Lehre zu begreifen, der nicht in ihr bewandert ist. Der betrachtet den Körper als sich selbst oder sich selbst als körperähnlich oder in sich selbst den Körper oder in dem Körper sich selbst; er betrachtet die Empfindung, die Wahrnehmung, die Gemütsregungen, das Erkennen als sich selbst oder sich selbst als diesen ähnlich oder in sich selbst diese oder in diesen sich selbst.“[3] Nun demonstriert ihm aber die Wirklichkeit augenscheinlich, daß diese sämtlichen fünf Gruppen und damit auch ihr Produkt, die Persönlichkeit, im Tode der Zerstörung anheimfallen. Daraus ergibt sich für ihn ein Doppeltes:

Zunächst stellt sich als praktische Folge eine beispiellose Furcht vor dem Tode als der vermeintlichen Vernichtung seines Wesens ein. Nur die Kehrseite dieser Furcht ist seine grenzenlose Anhänglichkeit an das Leben, das heißt an die fünf Gruppen in Aktion, eine Anhänglichkeit, die gemeinhin sogar dem Leiden gegenüber sich behauptet, so sehr, daß der Mensch auch ein Leben, das nur Leiden ist, mit in den Kauf nimmt, wenn er nur überhaupt leben darf, also vor seiner vermeintlichen Vernichtung möglichst lange bewahrt bleibt. Damit stoßen wir aber hier zugleich auf den tiefsten und letzten Grund für diese grenzenlose Anhänglichkeit an das Leben. Derselbe kann nicht etwa, wie wir bereits gesehen haben, darin liegen, als ob das Leben an sich etwas Begehrenswertes wäre, sondern er besteht eben in dem Wahn, daß unser Wesen in den fünf Gruppen der Persönlichkeit bestanden, also mit diesen dem Untergang geweiht sei. Gebt dem Menschen die klare Überzeugung, daß Krankheit und Tod ihn in seinem eigentlichen Bestande nicht zu berühren vermögen, und er wird mit einem Schlage völlig gleichmütig gegen dieselben werden!



[1] beispielsweise Deussen in seinen „Elementen der Metaphysik“, S. 80.

[2] Auf dieser falschen Formulierung des Grundproblems beruht vor allem die Unfruchtbarkeit unserer abendländischen Philosophie, indem, wenn man das Problem dahin abstellt, was die Welt sei, als selbstverständlich mitunterstellt wird, daß ich selbst zur Welt gehöre. Eben dadurch hat man sich dann aber gleich von allem Anfang an die Möglichkeit verbaut, sich selbst als außerweltlich zu begreifen.

[3] Majjh. 109.

 

(Georg Grimm, Die Lehre des Buddho, 1979, S. 91-114)