Die Bedingungen der Wiedergeburt

 

Das Werden, das Anhaften, der Durst

 

Zunächst kann natürlich niemand aus unmittelbarer Anschauung heraus sagen, wie sich der Vorgang seiner eigenen Geburt jeweils vollzieht, obwohl jeder ihn bereits unzählige Male durchgemacht hat. Denn die Empfängnis, die diese jeweilige Geburt einleitet, geht für jedes Wesen in der Nacht der tiefsten Bewußtlosigkeit oder, um im Geiste des Buddho zu sprechen, im tiefsten Nichtwissen vor sich. Wohl aber könnte man auf den Gedanken kommen, die Kenntnis, die sich der Buddho auch in diesem Punkte zuschreibt, aus dem zweiten der drei großen Wissen, die er sich errungen hatte, abzuleiten, nämlich aus der Fähigkeit, „vermittels des göttlichen Auges, des geklärten, überirdischen“ zu erkennen, „wie die Wesen dahinschwinden und wiedererscheinen“.

 

Wäre der Buddho wirklich auf diesem Wege zur Feststellung der Bedingungen unserer Wiedergeburt gelangt, so wäre das für uns sehr mißlich. Würden wir, denen diese Fähigkeit des göttlichen Auges vollständig abgeht, uns doch hier auf den bloßen Glauben an seine Darstellung beschränkt sehen und damit einer der Grundpfeiler des gewaltigen, auf der Möglichkeit unmittelbarer eigener Einsicht beruhenden Baues seiner Lehre sich als morsch erweisen. Indessen ist diese Befürchtung unbegründet, und zwar aus einem sehr einfachen Grunde:

Auch vermittels der Fähigkeit des göttlichen Auges konnte der Buddho doch immer nur die bloße Tatsache, daß die Wesen – und zwar in unserer Sinnenwelt in einem Mutterleibe – immer wieder neu erscheinen, konstatieren, nicht aber die Ursache für diese Tatsache, die der unmittelbaren Anschauung überhaupt nicht zugänglich ist. Diese Ursache mußte also auf einem anderen Wege gefunden werden. Es war der folgende:

Der Buddho suchte das Geborenwerden als den integrierenden Bestandteil eines anderen, allgemeineren Vorganges zu begreifen, so daß, wenn er die Bedingung für den letzteren aufdeckte, damit zugleich und eo ipso auch die für den ersteren klargestellt war. Als diesen allgemeineren Vorgang aber fand er das Werden (bhavo). Das Werden ist der allgemeinste, ja im Grund einzige Vorgang auf der Welt. Es gibt kein eigentliches Sein im Sinne eines irgendwie Beharrenden, sondern alles ist im fortwährenden Flusse begriffen, entwickelt sich aus den kleinsten Anfängen, um sich alsbald wieder aufzulösen, ist eben ein bloßes Werden.

 

In dieser Weise wird insbesondere auch alles Lebendige in jeder der möglichen Welten, nämlich der Begierdenwelt, der Formwelt und der Nichtformwelt[1].

 

Wenn ich die Bedingungen für die Empfängnis eines Wesens setze, setze ich eben damit die Bedingungen für sein Werden, und wenn ich die Bedingungen alles Werdens vernichte, vernichte ich eben dadurch auch die Bedingungen jeglicher Geburt.

 

Damit war also für den Buddho das Problem der Geburt auf das des Werdens überhaupt übergeleitet, indem nunmehr für ihn die Frage zu beantworten war:

Was ist der zureichende Grund für dieses rastlose, unaufhörliche Werden,in das wir uns hineingestellt sehen?

 

Sobald ein Anhaften in uns aufsteigt, beginnt das Werden, nicht bloß das Krank-werden, Gesund-werden, Zornig-werden, Lustig-werden, sondern jegliches Werden überhaupt:

Immer und überall wird man zu dem, woran man haftet, indem man sich zugleich mit dem, was infolge des Haftens wird, identifiziert. Ja, selbst mein eigener Körper wird bloß, wenn und so lange an der Nahrung gehaftet und diese demzufolge dem Körper einverleibt wird; hört jegliches Anhaften an der Nahrung auf, dann wird auch der Körper als solcher nicht weiter, er löst sich auf. Das Resultat ist also: Wenn ich an nichts mehr hafte, kann auch nichts mehr für mich werden.

Dieses Haften ist das Kraftprinzip in allen einzelnen Erscheinungen der Natur und bildet eben deshalb das Wesen aller Naturkräfte. Freilich kann man das ganz erst dann verstehen, wenn man statt des angegebenen objektiven Standpunktes unserer Naturwissenschaften – objektiv deshalb, weil er vom Objekt ausgeht, dieses als das Primäre betrachtet, aus dem alles, selbst das Subjekt, zu erklären sei – sich auf den direkt entgegengesetzten, den subjektiven, zurückzieht, den der Buddho einnimmt. Nach ihm ist ja, wie wir bereits zur Genüge wissen, das Primäre nicht die Natur, die Welt mit ihren Gesetzen, sondern ich selbst bin dieses Primäre; und das Problem besteht nicht darin, mich als Produkt der Welt zu begreifen, also aufzuklären, wie die Welt zu mir kommt, sondern umgekehrt, die Welt als Produkt von mir zu erfassen und klar zu machen, wie ich in meinem unergründlichem Wesen zur Welt als zum Bereiche des Anattā, des Nicht-Ich, komme, oder, was dasselbe ist, wie ich in den Bereich des Werdens hineingerate. Eben deshalb kann es sich für den Buddho und für jeden, der von seinem Standpunkt aus in die Welt hineinschaut, nie darum handeln, wie das Werden an sich, also unabhängig von mir zu erklären sei, sondern dasselbe wird, wie ja die ganze Welt, zu einem subjektiven Phänomen des Einzelnen, muß deshalb auch stets und ausnahmslos und von vornherein seinen letzten zureichenden Grund im einzelnen Individuum haben.

 


[1] „Diese drei [Arten von] Werden gibt es, Mönche: Werden in der Begierdenwelt, Werden in der Formwelt, Werden in der Nichtformwelt.“ (Sam. 12, 2) – Unter der „Formwelt“ werden hier jene himmlischen Reiche verstanden, in denen die Objektivierung zwar noch in körperlicher Form erfolgt, aber frei von sinnlichem Begehren; die „Nicht-Formwelt“ begreift die Reiche des unbegrenzten Raumes, des unbegrenzten Bewußtseins, der Nichtirgendetwasheit und der Weder-Wahrnehmung-noch-Nichtwahrnehmung in sich.


(Grimm, Die Lehre Des Buddho, S. 162 ff.)

 

 


Paticccasamuppādo

(Kette der Abhängigkeiten mit ihren 12 Gliedern)

 

Die Bedingte Entstehung

 

 

Georg Grimm gab seinem Hauptwerk „Die Lehre des Buddho“ den Untertitel: „Die Lehre der Vernunft und der Meditation“. Zum Thema Vernunft: An verschiedenen Stellen im Pāli-Kanon ist zu lesen, dass der Buddha seine Mönche oder auch Laienanhänger aufgefordert hat, den Inhalt seine Lehre zu prüfen. Das heißt auszuprobieren, ob sie in der Lage waren, diese Lehre zu verstehen und den Weg zu gehen, der aus dem Samsāro – Kreislauf der Wiedergeburten – herausführt. Die Bedingungen, die dazu führen, dass wir uns immer wieder in einem Körper vorfinden, zeigt der Buddha in seinem Paticcasamuppādo auf.

 

Einer seiner Mönche, der ehrwürdige Assaji, brachte diese Bedingungen gegenüber dem Wanderasketen Sāriputta auf folgenden Nenner:

„Die [leidvollen] Dinge, die aus einer Ursache entspringen: Deren Ursache hat der Vollendete mitgeteilt, ebenfalls ihre Aufhebung. Also lehrt der große Asket.“ (Mahāv. 1, 23).

 

Der Buddha nannte als erste Ursache, sozusagen als Basis der Kette der Ursachen, das „Nichtwissen“. Dieses besteht darin, dass nicht erkannt wird, was immer wieder zu Geburt und Tod führt.

 

Hat ein Wesen einen Keim in einem Mutterleib ergriffen, setzen die Sankāras[1] (setzt das Hervorbringen) ein. Das bedeutet, ein körperlicher Organismus wird geschaffen.

 

Dies ist aber nur möglich, wenn das Element Bewusstsein hinzukommt. Es wird als ein nach allen Seiten hin leuchtendes Element bezeichnet.

 

Es kann zum Aufbau eines körperlichen Organismus im Mutterleib nur kommen, wenn dieses Element [Bewußtsein] hinzutritt. Im Sam. 12, 67 heißt es: „Wie zwei Bündel von Ried aneinander gelehnt stehen, so auch entsteht Bewusstsein durch den körperlichen Organismus, der körperliche Organismus durch Bewusstsein.“

 

Das sich entwickelnde Lebewesen bildet [die sechs] Sinnesorgane für Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Tasten und Denken[2].

 

Damit sind die [Sinnes-]Berührungen mit der Welt der Farben, der Töne, der Düfte, der Säfte, des Tastbaren und der Welt der Vorstellungen erst möglich. Der Buddha spricht von Berührung, wenn durch Zusammentreffen von Sinnesorgan (z.B. Auge) und Sinnesobjekt (z.B. Farbe) Bewusstsein (z.B. Seh-Bewusstsein) aufflammt.[3] Der mit den Sinnesorganen ausgestattete Körper ist in der Buddhalehre der Berührungsapparat, der Treffpunkt zwischen mir, dem Lastträger (Puggala), und der mich umgebender Welt (Last oder Bürde, bhāra, die ich auf mich genommen habe) (s.u. Der Puggala)

 

Wenn es zu einer entsprechenden Sinnesberührung kommt, werden Empfindungen (vedanā) ausgelöst: wohlige, leidige oder weder wohlige noch leidige.

 

Die Folge davon ist, dass Verlangen, Durst (tanhā), nach den wohligen und Abneigung gegen die leidigen Empfindungen, ausgelöst werden.

 

Daraus folgt: Es findet ein Anhaften statt. Im Sam. 22, 90 heiß es: „Diese ganze Welt ist alles in allem nur eine Kette von Begehren, Ergreifen und Anhaften.“

 

In Abhängigkeit vom Anhaften entsteht das Werden. Im Hauptwerk von Georg Grimm „Die Lehre des Buddho“, 1979, S. 163 ist zu lesen: „Das Werden ist der allgemeinste, ja im Grunde einzige Vorgang auf der Welt. Es gibt kein eigentliches Sein im Sinne eines irgendwie Beharrenden, sondern alles ist im fortwährenden Flusse begriffen, entwickelt sich aus den kleinsten Anfängen, um sich alsbald wieder aufzulösen, ist eben ein bloßes Werden.“

 

„In Abhängigkeit vom Werden entsteht die Geburt.“ (nach Ud. 1, 3) Die Geburt ist ein Anfangsstadium jedes neuen mit  Sinnen behafteter Körper. Im Sam. 22, 2 ist zu lesen: „Und was, ihr Jünger, ist die Geburt? Der Wesen in dieser oder jener Lebensklasse Geburt, Geborenwerden, Keimung, Empfängnis, das Erscheinen der Gruppen [die fünf Gruppen des Anhaftens = Persönlichkeit], das Ergreifen der Sinnesgebiete, das nennt man, ihr Jünger, Geburt.“

 

Mit der Geburt eines Wesens beginnt notwendigerweise die ganze Kette der glücklichen und unglücklichen Ereignisse an ihm abzulaufen, die man Leben nennt. Wenn Geburt vorhanden ist, entstehen Alter und Tod, Kummer, Jammer, Schmerz, Gram und Verzweiflung.

 

Hier endet die Kausalitätskette mit ihren 12 Gliedern.

 


[1]  s. auch unter Die Sankāra.

[2]  Der Buddha bezeichnet das Denken als sechste Sinnestätigkeit.

[3]  Mit „Berührung“ ist also nicht eine physiologische Qualität des Tastsinns gemeint.

 

 

Kette der Abhängigkeiten klick auch hier: Das Nichtwissen




 

 

Beiträge über die Wiedergeburt


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DIE FÜNF FÄHRTEN.pdf
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Der Drang nach einer Wiederbegegnung mit
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Rezept für eine günstige Wiedergeburt.pd
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