Die Leidenswelt  

 

Die ganze Welt, Anfang, Dauer und Ende derselben, ist für uns an unsere Persönlichkeit geknüpft. Die fünf Gruppen, welche diese Persönlichkeit konstituieren, sind ursächlich bedingt derart, daß die Gruppe des Körpers die Grundlage für die übrigen vier Gruppen, Empfindung, Wahrnehmung, Gemütsregungen und Erkennen, bildet, ja, sie durch die Tätigkeit der Sinnesorgane allererst erzeugt. Der Körper selbst aber ist ein Produkt aus den in den vier Hauptelementen zusammengefaßten Stoffen, ist „aus den vier Hauptelementen entstanden“, also selbst wieder durch diese bedingt. Unsere Persönlichkeit und damit unsere ganze Welt teilen also letzten Endes das Schicksal dieser vier Hauptelemente, d. h. sie sind, wie diese, vergänglich.

Zunächst handelt es sich also für den Buddho darum, uns die Vergänglichkeit der vier Hauptelemente mit möglichster Anschaulichkeit aufzuzeigen:

„Es gibt, Brüder, eine Zeit, wo die äußeren Wasser rasen, und verschwunden ist dann die äußere Erde. Dieses äußerlichen Erdenelementes, des so ungeheueren, Vergänglichkeit wird sich also, Brüder, zeigen, zeigen wird es sich, daß es den Gesetzen der Zerstörung, der Auflösung, der Veränderung unterworfen ist. Es gibt, Brüder, eine Zeit, wo die äußeren Wasser rasen, wo sie ein Dorf fortreißen, eine Stadt fortreißen, eine Residenz fortreißen, ein Land wegspülen, Länder und Reiche wegspülen … [Feuer und Luft folgen in ähnlicher Weise]. (Majjh. 28)

Zeigen sich so aber alle in den vier Hauptelementen zusammengefaßten Stoffe dem großen Vergänglichkeitsgesetze unterworfen, so gilt dies natürlich auch von allen Gebilden derselben, gilt insbesondere auch von unserem Körper, weshalb der Buddho denn auch im unmittelbaren Anschluß an die Schilderung der unaufhörlichen Veränderlichkeit aller Elemente weiterfährt:

„Und da sollte man von diesem acht Spannen großen Körper sagen können: ‚Ich‘ oder ‚Mein‘ oder ‚Ich bin (das)‘? Vielmehr, ‚Welch toller Gedanke!‘ wäre darauf die richtige Antwort.“

Dieses Wehe infolge der Vergänglichkeit zeigt sich beim Körper als „Alter, Krankheit und Tod“; bei den anderen vier Gruppen als „Schmerz, Gram, Kummer und Verzweiflung“.

Am Schlusse bleibt also von jeder Willensbefriedigung, welcher Art sie auch sein mag, nur das Wehe über ihren Verlust. Nur mit diesem Schlußeffekt kann sie dann aber auch nach dem Bisherigen im Buche des Lebens eingetragen werden. Das letztere muß also am Ende naturnotwendig lauter negative Einträge aufweisen, mit anderen Worten, der Buddho hat recht:

Alles ist letzten Endes als Leid zu bewerten.

Diese die ganze Welt beherrschende Unmöglichkeit jeder dauernden Willensbefriedigung und damit das schließliche jedesmalige Dominieren des Leidens ist so offensichtlich, so in die Augen fallend, daß man sie keinesfalls widerlegen, sondern höchstens ignorieren kann. Und in der Tat, so unglaublich es ist: der Wille im Menschen, dieses sein Fundament, ist so stark, daß er es fertig bringt, sogar diese das ganze Wesen der Welt beleuchtende Grundwahrheit nicht zu sehen, wenn er sie nicht sehen will,

Der Buddho lehrt nämlich, daß der Samsāro [Kreislauf der Wiedergeburten], innerhalb dessen die Wesen unaufhörlich hin- und herwandern, aus fünf Fährten besteht: „Fünf Fährten gibt es, Sāriputto: und was für welche? Den Abweg [Höllenbereiche], den tierischen Schoß, das Gespensterreich, die Menschen und die Götter.

Erstrebenswert unter diesen fünf Fährten könnte im Grunde nur die letzte, die göttliche Fährte, sein. Doch untersteht nach dem Buddho auch sie, wie übrigens alle fünf Fährten – insbesondere nimmt auch die Objektivierung in der Tierwelt und in den Höllen stets wieder ein Ende, wenn auch möglicherweise erst nach jeweils ungemessenen Zeiträumen …

Unfehlbar muß also immer wieder der Abstieg auf die niederen Fährten erfolgen …

So irrt denn jedes Wesen seit Ewigkeit im Samsāro durch die fünf Reiche hin und her, sieht sich im unaufhörlichen Wechsel der fünf Gruppen, die seine Persönlichkeit aufbauen, und damit im ewigen Wechsel dieser selbst bald als Mensch, bald als Gespenst, bald als Tier, bald als Teufel, hin und wieder als Gott: „Man keimt in Schoßen, keimt in anderen Welten und kehrt im Wandelkreise hin und wieder.“[1][1]

Man muß sich anschaulich vorzustellen suchen, was das bedeutet; und zwar muß man sich zunächst über die Endlosigkeit dieser Weltenwanderung an sich klar werden …

Steht nun aber für einen Menschen die Tatsache, daß der Tod nicht unser Ende ist, fest, so handelt es sich für ihn um die weitere Frage der Art dieser Fortdauer. Zwei Hauptlehren stehen sich hier gegenüber, einmal die Lehre der persönlichen Fortdauer, deren Hauptrepräsentant die christliche Lehre von der Unsterblichkeit des Individuums in einem ewigen Himmel oder in einer ewigen Hölle ist, und dann die Palingenesie [Wiedergeburt].

Nun haben wir bereits gesehen, daß der Körper mit dem Tode augenscheinlich zugrunde geht, indem seine Bestandteile wieder in die Gemeinschaft der anorganischen Stoffe der äußeren Natur zurückkehren, und daß mit dem Fortfall dieser ihrer Basis, als von ihr bedingt, auch die übrigen Komponenten der Persönlichkeit, Empfindung, Wahrnehmung, Gemütstätigkeit und Erkennen in nichts zerstieben und unmöglich werden. Man kann sich durch Dogmen bestimmen lassen, diese augenscheinliche Aussage der Natur zu ignorieren oder gar trotz ihrer an dem Glauben der persönlichen Fortdauer festzuhalten, aber wenn man an die Stelle der Erkenntnis nicht seinen Willen als die Quelle der Wahrheit setzt – jeder Glaube ist ja letzten Endes eine Willensfunktion und der Wille bekanntermaßen nicht zu belehren – sondern wenn man auf dem Standpunkte steht, daß alle Wahrheit nur auf der Anschauung beruhen kann und in ihr wurzeln muß, dann steht über allem Zweifel fest, daß mit dem Tode des Menschen nicht bloß das, was an ihm körperlich, sondern auch, was an ihm geistig ist – nämlich eben Empfindung, Wahrnehmung, Gemütstätigkeiten und Erkennen – d. h. also die ganze Persönlichkeit, zugrunde geht.

Damit bleibt dann aber nur mehr die Palingenesie als die überhaupt noch allein mögliche Art der Fortdauer nach dem Tode übrig. Denn für den Menschen, für welchen einerseits die Tatsache seines Fortlebens nach dem Tode feststeht und der andererseits alle Lehren einer persönlichen Fortdauer – nicht nur die christliche, sondern auch alle anderen, welche diese persönliche Fortdauer in Form der Seelenwanderung oder Metempsychose lehren – als vernunftwidrig zurückweisen muß, bietet sich nur mehr die Möglichkeit einer Fortdauer unter Untergang seiner Persönlichkeit, welchen Untergang eben die Palingenesie in sich begreift. Unter dieser versteht man nämlich die Zersetzung und Neubildung des ganzen Individuums, so zwar, daß das Sterbende mitsamt dem Bewußtsein vollständig untergeht, aber ein Keim übrig bleibt, aus welchem ein neues Individuum mit neuem Bewußtsein hervorgeht[2][2]

Diese Lehre der Fortdauer nach dem Tode ist die einzige, die mit keiner, aber auch mit gar keiner anderweitigen Tatsache des Naturverlaufes in Widerspruch gerät. Und schon deswegen, weil sie so die einzige ist, bei der sich eine Fortdauer nach dem Tode logisch überhaupt nur widerspruchslos denken läßt, muß sie auch von jedem, für den die Tatsache seiner Fortdauer an sich feststeht, als die wahre akzeptiert werden …

Sobald man zur Erkenntnis vorgedrungen ist, daß die Art unserer Fortdauer die Palingenesie ist, geht auch ohne weiteres die Einsicht in die Anfangslosigkeit des Kreislaufs unserer Wiedergeburten auf und damit auch in die unermeßlichen Zeiträume, die wir bereits durchwandert haben. Denn war die mein gegenwärtiges Leben einleitende Geburt nicht meine erste, dann war es auch nicht die dieser vorhergegangene und so ohne Aufhören zurück in die anfangslose Unendlichkeit der Vergangenheit.

Wobei zu merken ist, daß diese Neugeburt als Mensch nicht gerade auf unserer Erde stattfinden muß. Ganz im Einklang mit unserer modernen Astronomie war man bereits im alten Indien allgemein zur Erkenntnis durchgedrungen, daß das Universum aus zahllosen Weltsystemen und demgemäß auch aus zahllosen Erden besteht.

Freilich eröffnet sich unter diesem Gesichtspunkte eine geradezu fürchterliche Perspektive für unsere Zukunft: Wir werden nicht durch ein „Entwicklungsgesetz“ unaufhaltsam und ohne unseren Willen in immer reinere Gefilde emporgetragen, sondern wir irren, wie schon seit unvordenklichen Zeiten, so auch jetzt, so auch in aller Zukunft, innerhalb der grauenhaften Abgründe des Seins umher mit der Möglichkeit, ja in Hinsicht auf die Zahllosigkeit der uns noch bevorstehenden Wiedergeburten mit der bestimmten Aussicht, auch selbst wieder in die tiefsten dieser Abgründe, das Tierreich und die Höllenreiche, und damit in Zustände grenzenlosen Leidens hinunterzusinken …

 


[1] Psalmen der Mönche, V. 785.

[2] Schopenhauer, Parerga II, S. 301 f. (285). Der übrig bleibende Keim ist unser dürstender Wille. Davon später.

 

(G.Grimm, Die Lehre des Buddho, S. 65 ff.)