Das Hauptwerk Georg Grimms erweckte in vielen Menschen das Interesse an der Lehre des Buddho. Es wird auch heute wieder und wieder verlangt, und die noch in den Antiquariaten vorhandenen Exemplare dürften bald vergriffen sein. Das Besondere des Werkes liegt darin, das es dem Menschen des Occidents [Abendlandes] nicht von vornherein ein ihm ungewohntes Denken zumutet, sondern ihm über die Beantwortung der ihm liegenden Fragen den Zugang zur Lehre des Buddho öffnet. Als das Urproblem zeigt sich dem Leser die Frage: "Was bin ich?", nicht aber die Frage: "Was ist die Welt?" Dem fügt der Verfasser hinzu: "Denn es könnte sehr wohl sein, dass, wenn ich weiß, was ich bin, mich die Welt gar nicht weiter interessiert."

(Yānā 1957, 1. Heft, Max Hoppe)

 

Was bin ich?

Nach dem Buddha besteht das Urproblem aller Philosophie nicht, wie unsere Philosophen meinen, darin, was die Welt sei, sondern was ich bin. Ich selbst bin mir ja auch der nächste und solange ich mir nicht über mich selbst klar geworden bin, ist es geradezu töricht, über die Welt, in die ich mich hineingestellt sehe, nachgrübeln zu wollen.

 

Die Frage aber, was ich bin, läuft auf die andere hinaus, im welchem Verhältnis ich zu den Elementen meiner Persönlichkeit, d.h. also zu meinen körperlichen und geistigen Funktionen, stehe. Die Beantwortung dieser Frage aber setzt voraus, dass ich zunächst das Getriebe dieser Persönlichkeit durchschaue. Der Buddha enthüllt es uns, wie folgt:

 

Ich habe einen Körper mit sechs Sinnenorganen[1]. Sobald ich diese Organe auf ein ihnen entsprechendes Objekt einstelle, flammt in mir Bewusstsein auf mit der Folge, dass eine Empfindung und Wahrnehmung für mich entsteht und ich dann – vermittels des Denk­organs – das empfundene und wahrgenommene Objekt erwäge und überlege, also denke. Meine Empfindungen und Wahrnehmungen sowie meine Denktätigkeit und damit mein Bewusstsein überhaupt sind mithin an die Sinnenorgane meines Körpers gebunden, sind durch den letzteren bedingt, so, „wie da, durch einen Baum bedingt, ein Schatten entstehen möchte“. Geht mein Körper zugrunde, dann ist es auch mit meinen im Empfinden und Wahrnehmen sowie im Denken bestehenden so genannten geistigen Funktionen und damit mit allem Bewusstsein vorbei.

 

Damit bin ich mir über mein Wesen auf jeden Fall soweit klar geworden, dass dieses nicht unmittelbar empfindet, wahrnimmt und denkt oder Bewusstsein erzeugt, sondern vermittels der Sinnenorgane, insbesondere auch des Denkorgans, des körperlichen Organismus. Die Frage nach meiner Wesenheit spitzt sich daher auf die andere zu, in welchem Verhältnis ich zu diesem meinem körperlichen Organismus stehe.

 

Nach dem Buddha kann auch er mir nicht wesenseigentümlich sein. Denn er ist infolge des unaufhörlichen Stoffwechsels in ständiger Veränderung derart, dass nach längstens zehn Jahren kein Atom von ihm mehr das gleiche ist. Mein Körper mit seinen Sinnenorganen ist also nach jeweils zehn Jahren ein ganz anderer geworden. Bin ich beispielsweise jetzt vierzig Jahre alt, so habe ich meinen Körper schon viermal während dieses Lebens zu Grabe getragen und habe bereits das fünfte Mal einen völlig neuen.[2]

 

Ich selbst aber werde durch diesen Wechsel in keiner Weise berührt: Ich weiß mich unmittelbar in meinem tiefsten Grunde heute noch als derselbe, der ich von jeher war. Hiernach kann mir aber auch der körperliche Organismus nicht wesenhaft zugehören. Ich bin nicht dieser Organismus, sondern ich habe bloß einen solchen. Er ist der Apparat, dessen ich mich bediene, um mittels seiner Sinnenorgane Empfindungen und Wahr-nehmungen von Objekten der Welt zu bekommen und um sodann speziell mittels des Denkorgans über die Objekte nachdenken zu können, kurz, er ist der Erkenntnisapparat oder auch die Sechssinnenmaschine, durch die ich mit der Welt in Verbindung stehe. Ich selbst bin also auch hinter dienern Erkenntnisapparat. Ich bediene mich ja seiner.[3]

 

Hat aber mein Körper nichts mit meinem Wesen zu tun, dann war ich natürlich auch schon, bevor dieser Körper aufgebaut wurde. Die Erzeugung dieses Körpers war also nicht mein Anfang, sondern eben nur der Anfang dieses meines Körpers. Damit entsteht die Frage:

 

Wie kam ich dann zu diesem Körper, zu diesem Erkenntnisapparat?  Die Antwort ist: dadurch, dass ich das durch die Vereinigung des Sperma meines Vaters und des Ei's meiner Mutter gebildete Keimmaterial ergriff und aus ihm meinen Organismus gestaltete.

 

Warum aber ergriff ich diesen Keim?  Weil ich Verlangen, Drang hatte, Empfindungen und Wahrnehmungen von der Welt zu bekommen, und eben deshalb auch den Drang nach einem Erkenntnisapparat, so gut, wie ich ja auch während meines Lebens etwas nur ergreife, wenn es mich danach verlangt oder drängt.

 

Woher aber dieser Drang? Verlangen, Drang kann sich in mir bloß nach einem mir bekannten Objekte erheben: was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß, oder: was ich nicht kenne, kann ich nicht begehren. Also musste ich die Objekte der Welt bereits vor meiner Empfängnis kennen gelernt haben. Das konnte aber natürlich nur vermittels eines körperlichen Organismus geschehen sein, so gut wie ich es auch jetzt nur vermittels eines solchen kann. Mithin musste ich schon vor meinem gegenwärtigen körperlichen Organismus einen solchen gehabt haben.

 

Wie aber kam ich zu diesem meinem früheren Organismus?  Natürlich auf dieselbe Weise, wie zu meinem gegenwärtigen; auch zu ihm hatte mich die Sehnsucht, das Verlangen, der Drang nach einem solchen Organismus getrieben, welcher Drang durch den Gebrauch eines noch früheren Erkenntnisapparates entstanden war, und so zurück in die anfanglose Vergangenheit. So aber auch in die endlose Zukunft hinein:

 

Auch in meinem kommenden Tode werde ich an einem neuen Keim in einem Mutterleibe haften, wenn ich noch Drang nach der Welt und damit einem Erkenntnisapparat haben werde. Aus dem gleichen Grunde werde ich nach dem Zerfall dieses künftigen Körpers in ähnlicher Weise wieder einen neuen bauen und nach diesem abermals einen neuen und so fort in saecula, saeculorum: die Kette meiner Wiedergeburten ist ge­schlossen.

 

Wie aber, wenn ich nicht mehr wiedergeboren werden will? Dann trete ich aus diesem Kreislauf heraus. Denn nur weil wir wollen, haften wir ja in unserem jeweiligen Tode an einem neuen Keim, wobei allerdings wohl zu merken ist, dass hier unter Wille unser tiefstes Streben, das ist eben der Drang, verstanden wird, der uns immer wieder zu neuem Leben drängt und dem nachgebend wir einen neuen Keim ergreifen. Erst wenn jeder Drang nach Empfindung und Wahrnehmung der Welt in uns erloschen ist, haben wir die Gewissheit, dass wir in unserem Tode keinen neuen Keim mehr ergreifen und demgemäß nicht mehr wiedergeboren werden.

 

Wie aber kann dieser Drang zum Erlöschen gebracht werden?  Durch Erkenntnis, nämlich durch die Erkenntnis, dass alles in der Welt vergänglich und deshalb – mit dem Eintritt dieser Vergänglichkeit – leidbringend und deshalb uns unangemessen ist. Dabei stellt sich dieses Leid, dem wir ausgesetzt sind, als riesengroß durch den Umstand dar, dass wir auch einen Keim in der Tierwelt ergreifen und demgemäß auch als Tiere wiedererscheinen können. Sobald wir unseren Aufenthalt in der Welt in dieser Weise durchschaut haben, erlischt jeder Drang nach der Welt und damit nach einem neuen Erkenntnisapparat in uns, so gut wie ein Durstiger jeden Drang zum Trinken verliert, wenn er den vor ihm stehenden Becher als mit Gift gefüllt erkennt. Nur aus Nichtwissen über den Charakter der Welt als einer Welt des Leidens und über unser Verhältnis zu unserer Persönlichkeit, in der wir uns bestanden wähnen, hängen wir also an der Welt und ergreifen in unserem jeweiligen Tode stets einen neuen Keim.

 

Was aber dann, wenn wir nach Vernichtung jedes Dranges nach der Welt in unserem Tode keinen neuen Keim mehr ergreifen und so für ewig von jedem körperlichen Organismus und damit auch von jeder Empfindung und Wahrnehmung der Welt befreit sind?  Dann haben wir unsere Ruhe, unsere ewige Ruhe vor der Welt und damit vor allem Leid und verharren in höchster Drangfreiheit, in absoluter Wunschlosigkeit. Vollkommene Wunsch-losigkeit aber ist höchste Seligkeit. Sie eignet dem Reiche der Wesenheiten (nibbana-dhatu) im Gegensatze zu dem Leiden, das der Welt ihren Charakter aufprägt.

 

Nun wissen wir, was wir in unserem tiefsten Grunde sind: Nichts von der ganzen Welt, nichts von all dem, was an unserkennbar ist.  Das alles, alsodas Empfinden, Wahrnehmen, das Denken und damit das ganze Bewusstsein, ja selbst der Apparat, mit dem wir diese Funktionen vollziehen, der körperliche Organismus, gehört nicht wesenhaft zu uns.

 

Wir können einen solchen Organismus und damit jene Qualitäten haben, wenn es uns danach drängt;wir können sie aber auch mit dem körperlichen Organismus wegwerfen, ohne dadurch in unserem tiefsten Wesen berührt zu werden. Damit haben wir uns zugleich als anfangs- und endlos erkannt. Denn was vergänglich an uns ist, das ist ja nur unser jeweiliger körperlicher Organismus mit seinen sinnlichen und geistigen Funktionen:

 

Seit Ewigkeiten hat mir keine Veränderung etwas anzu­haben vermocht und in alle Ewigkeiten hinein wird mir keine etwas anhaben können: ICH bin das Unvergängliche, das Ewige, und mag die Welt noch so unendlich sein, so ist sie doch nur „das Maß meiner eigenen, sie stetsübersteigenden Größe“. Ja, weil wir jenseits der Welt und damit nichts von ihr sind, deshalb sind wir in unserem eigentlichen Wesen im wahrsten Sinne des Wortes schrankenlos, grenzenlos. Denn was sollte uns da beschränken oder begrenzen, wo alle Schranken und alle Grenzen weggefallen sind?

 

So ist denn mein wahres Wesen „unergründlich, wie der große Ozean".

 


[1] Nach allgemeiner indischer Auffassung stellt auch das Denken eine Sinnestätigkeit, vollzogen mit dem Gehirn als Organ, dar.

[2] Dasselbe Schicksal muss natürlich auch der so genannte Äther- oder Astralkörper haben, der nachgewiesen Anschauungen in unserem grobmateriellen Körper enthalten ist. Denn auch er besteht, aus Materie, wenn auch ätherischer oder gar strahlender Materie, kann sich mithin ebenfalls nur durch unaufhörlichen Stoffwechsel behaupten.

[3] Diese Wahrheit, dass mir mein körperlicher Organismus und damit auch alle seine körperlichen und sinnlichen Funktionen, einschließlich des Denkens, und damit alles Bewusstsein überhaupt wesensfremd sind, wird kurz als der Anattā-Gedanke bezeichnet, d.h. der Gedanke, dass alles, was an mir erkennbar ist, Nicht-Ich – anattā – ist.


(G.Grimm, Die Lebenskraft und ihre Beherrschung, 1923)